Eine Hommage an die minimalistische Kurzgeschichte "The Harvest" von Amy Hempel. Amy Hempel ist eine legendäre US-Amerikanische Autorin von Short Storys, die vor allem von Autorenkollegen sehr verehrt wird, weil sie die Kunst der knappen Kurzgeschichte perfektioniert hat. Auch in dieser sehr kurzen Kurzgeschichte werden Amy Hempels Grundthemen - der Tod als ständiger Begleiter des Lebens - und die Angst vor Bindungen, mit eingewebt.

Eine mögliche Interpretation der Kurzgeschichte kannst Du hier nachlesen.

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Die Ernte - Hommage an Amy Hempel

Amy entwickelte einen Heißhunger, kurz bevor sie mit ihrem Kleinen schwanger wurde. Kurz bevor sie Werner zur Welt gebracht hatte, wurde Amy verrückt nach Weintrauben und verschlang Mittags die Reben - wer kann sagen, wie viele?- bis wir erwarteten, dass die Trauben zu Wein vergoren und sie torkelnd durch den Tag flog - ein Weinfest im Bauch.

Die Trauben ließen Amy nach Einbruch der Dunkelheit nervös werden, wegen ihnen dachte sie über Kinder nach und war entsetzt, als das Ei nicht abging, und eine Stimme in ihr schrie: "Amy, jetzt komm zur Besinnung, verfickte Scheiße!"

Zwei Jahre später waren wir zu Gast auf einem Weinberg. Das andere Paar war verheiratet und hatte zwei Kinder. Wir verglichen unsere Hochzeitsringe, ihrer war schöner, aber rutschte ihr vom Finger und der Juwelier versicherte ihr, man könne ihn nicht verengen, man empfahl ihr, einen neuen zu kaufen.

Die Bergers, Greta und Paul, entwickelten in gewisser Weise einen eigenen Heißhunger. Sie stellten fest, dass sie Äpfel mochten und immer wenn sie in einen Apfel bissen, machten sie ein Schauspiel daraus, als seien sie die ersten Menschen.

Zu diesen Abendessen kamen sie immer zu spät und das Personal warf ihnen böse Blicke zu und beide röchelten wie Asthmakranke.

"Auf dich, Du  Muschi", sagte sie dann und hob ihr Glas.

Wir sahen ihnen von unserem Tisch aus zu, auf dem eine einsame Blume stand, die von einer flügelschlagenden Motte umkreist wurde. Es war Paul, der uns erzählte, dass die Motten nur einen Tag lang lebten.

Eines Tages spazierte ich auf den Weinberg und beobachtete die in der Abendsonne flirrenden Silhouetten, die auf den Serpentinen wanderten. Ich folgte derjenigen, die für mich von Bedeutung war, folgte ihr zu einer Aussichtsbank, sah der Frau auf der Bank zu, wie sie ihm die Hand reichte und ihn an sich zog.

Dann sah ich, wie sie aus den Schutz der Weinreben auf mich zu ging und erkannte meinen Fehler.

An diesem Abend, als wir uns die historische Gruft anschauten und rauchten, beobachtete ich Amys Gesicht, als sie von ihrem - ich möchte sagen "anderen" Leben erzählte. Ich hatte den Eindruck, dass es Paul störte, als Amy "er" sagte und ihn meinte.

Die Bergers mit ihrer moralisierenden Botschaft waren dazu bestimmt, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Ich konnte ihnen nichts abgewinnen, sie waren zu einem Eheseminar gemeldet.

Natürlich luden sie uns ein, Sternschnuppen anzuschauen. Das war berechnend von ihm, das sah ihm ähnlich. Wir saßen am Ufer und während die anderen sich mit ihren Smartphones vertraut machten, blickten wir ertappt in das Blitzlicht. Wir schauten sie an, die Arme umeinander und wendeten uns den beiden entgegen.

Auf dem Foto scheint es, als sei mir die Kraft aus dem Körper gefahren. Ich sehe die beiden nicht an. Ich sehe nach unten, wo ein Ring im Gras liegt, ein angebissener Apfel und Kerne von Trauben, von Weintrauben. 


Das Original - Amy Hempels "The Harvest" könnt ihr hier  nachlesen: https://www.pifmagazine.com/1998/09/the-harvest/


Amy Hempel - Leben und Werk

Amy Hempel ist eine US-amerikanische Schriftstellerin, Journalistin und Dozentin für kreatives Schreiben, die vor allem für ihre minimalistischen Kurzgeschichten bekannt ist. Sie wurde 1951 in Chicago geboren und zog mit 16 Jahren nach Kalifornien, wo viele ihrer frühen Geschichten spielen. Sie studierte bei dem berühmten Lektor und Autor Gordon Lish, der sie entdeckte und förderte. Sie veröffentlichte ihr erstes Buch “Reasons to Live” im Jahr 1985, das die vielanthologisierte Geschichte “In the Cemetery Where Al Jolson Is Buried” enthält, die sie in einem Workshop von Lish schrieb. Es folgten drei weitere Sammlungen: “At the Gates of the Animal Kingdom” (1990), “Tumble Home” (1997) und “The Dog of the Marriage” (2005). Im Jahr 2006 erschien “The Collected Stories of Amy Hempel”, das alle ihre Geschichten aus den vier früheren Büchern vereint. Sie schrieb auch gemeinsam mit Jill Cement unter dem Pseudonym A. J. Rich den Psychothriller “The Hand That Feeds You” (2015).

 

Hempels Geschichten sind oft sehr kurz, manchmal nur eine Seite lang, und zeichnen sich durch einen prägnanten, lakonischen und humorvollen Stil aus. Sie verzichtet auf überflüssige Details, erklärende Hintergründe oder psychologische Analysen ihrer Figuren und lässt stattdessen viel Raum für die Interpretation und Imagination des Lesers. Sie behandelt Themen wie Tod, Trauer, Liebe, Freundschaft, Einsamkeit, Angst und Schuld, oft aus der Perspektive von Frauen, die mit Verlusten oder Enttäuschungen konfrontiert sind. Sie verwendet häufig Tiere als Symbole oder Spiegel für die menschlichen Emotionen und Beziehungen. Sie wurde von Kritikern und Kollegen wie Chuck Palahniuk, Rick Moody oder George Saunders hochgelobt und gilt als eine der einflussreichsten zeitgenössischen Kurzgeschichtenautorinnen. Sie wurde unter anderem mit der Aufnahme in die American Academy of Arts and Sciences (2014) und die American Academy of Arts and Letters (2017) geehrt.

 

Eine ihrer bekanntesten und erfolgreichsten Geschichten ist “The Harvest” (Die Ernte), die in der Sammlung “At the Gates of the Animal Kingdom” enthalten ist. Die Geschichte handelt von einer Frau, die einen schweren Autounfall überlebt und dabei einen Teil ihrer Leber verliert, die an einen anderen Patienten gespendet wird. Die Erzählerin berichtet von ihrem Krankenhausaufenthalt, ihren Erinnerungen an ihre Kindheit, ihre Beziehung zu ihrem Freund und die Begegnung mit dem Empfänger ihrer Leber. Die Geschichte ist jedoch nicht linear oder realistisch erzählt, sondern spielt mit verschiedenen Ebenen der Fiktion und der Wahrheit. Die Erzählerin bricht mehrmals die vierte Wand und kommentiert ihre eigene Erzählweise, indem sie zugibt, dass sie einige Details erfunden oder verändert hat, um die Geschichte interessanter oder glaubwürdiger zu machen. Sie stellt auch die Frage, was eine Geschichte ausmacht und wie sie sich von der Wirklichkeit unterscheidet. Die Geschichte ist somit nicht nur eine Reflexion über das Leben und den Tod, sondern auch über das Schreiben und das Erzählen selbst.

 

Die Ernte hat auch andere Autoren inspiriert, die sich mit der Form und dem Inhalt der Geschichte auseinandergesetzt haben. Ein Beispiel dafür ist Bernhard Straßer, ein deutscher Schriftsteller und Kolumnist, der 1978 in Traunstein geboren wurde. Er schrieb eine Hommage an Die Ernte, die er unter dem gleichen Titel auf seiner Website veröffentlichte. Die Hommage ist ebenfalls eine minimalistische Kurzgeschichte, die von zwei undurchschaubaren Paaren handelt, die sich während eines Eheseminars auf einem Weinberg näher kommen. Die Geschichte spielt mit den Motiven der Fruchtbarkeit, der Verführung, der Lüge und der Identität und nimmt Bezug auf die Originalgeschichte von Hempel, indem sie einige ihrer Formulierungen oder Bilder aufgreift oder variiert. Die Hommage ist somit eine kreative und respektvolle Anerkennung der Kunst und des Einflusses von Amy Hempel, einer der Meisterinnen der Kurzgeschichte.

Die Bücher von Bernhard Straßer gibt es hier:

Interpretation der Kurzgeschichte "Die Ernte"

Die Kurzgeschichte ist eine Hommage an Amy Hempel, eine berühmte amerikanische Autorin, die für ihre minimalistischen und experimentellen Erzählungen bekannt ist. Die Hommage nimmt einige Elemente aus Hempels Geschichte “Die Ernte” auf, wie zum Beispiel die Themen der Fruchtbarkeit, der Verführung, der Lüge und der Identität, sowie einige ihrer Formulierungen oder Bilder. Die Hommage ist aber auch eine eigenständige Geschichte, die von zwei undurchschaubaren Paaren handelt, die sich während eines Eheseminars auf einem Weinberg näher kommen.

 

Die Geschichte ist in der ersten Person aus der Sicht eines Mannes erzählt, der mit seiner Freundin Amy zusammen ist. Amy ist schwanger geworden, obwohl sie das nicht wollte, und hat eine Affäre mit Paul, dem Mann des anderen Paares. Der Erzähler erfährt davon, als er sie auf dem Weinberg beobachtet. Er scheint aber nicht sehr überrascht oder verletzt zu sein, sondern eher resigniert und gleichgültig. Er erzählt die Geschichte in einem nüchternen und distanzierten Ton, ohne viel Emotionen oder Urteile zu zeigen.

 

Die Geschichte spielt mit verschiedenen Symbolen, die die Beziehungen der Figuren widerspiegeln. Die Trauben stehen für Amys Schwangerschaft und ihren Heißhunger, aber auch für ihren Verrat und ihre Unzufriedenheit. Die Äpfel stehen für die Bergers, die sich als die ersten Menschen inszenieren, aber in Wirklichkeit lügen und betrügen. Die Motten stehen für die Vergänglichkeit des Lebens und der Liebe, die nur einen Tag oder eine Nacht dauern. Der Ring steht für die Ehe und die Treue, die aber in dieser Geschichte keine Rolle spielen. Der angebissene Apfel und die Traubenkerne stehen für die Spuren der Sünde und der Schuld, die die Figuren hinterlassen.

 

Die Geschichte ist auch eine Reflexion über das Erzählen und das Schreiben selbst. Der Erzähler bricht mehrmals die vierte Wand und kommentiert seine eigene Erzählweise, indem er zum Beispiel sagt: “Ich möchte sagen” oder “Das sah ihm ähnlich”. Er stellt damit die Wahrhaftigkeit und die Bedeutung seiner Geschichte in Frage. Er fragt sich, ob er die Wahrheit sagt oder ob er etwas verschweigt oder verändert. Er fragt sich auch, ob seine Geschichte überhaupt jemanden interessiert oder ob sie nur eine von vielen ist. Er spielt damit auf die Originalgeschichte von Hempel an, die auch die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwischt.

 

Die Geschichte ist somit eine kreative und respektvolle Anerkennung der Kunst und des Einflusses von Amy Hempel, einer der Meisterinnen der Kurzgeschichte. Die Geschichte ist aber auch eine eigenständige und originelle Erzählung, die von den komplizierten und ambivalenten Beziehungen zwischen Menschen handelt, die sich nicht wirklich kennen oder lieben. Die Geschichte ist eine Herausforderung für den Leser, der sich seine eigene Meinung bilden muss.


Die Geschichte downloaden:

Alle Kurzgeschichten-Downloads findet ihr hier: https://www.chiemgauseiten.de/kurzgeschichten/downloads/

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Die Ernte
Minimalistische Kurzgeschichte über zwei undurchschaubare Paare, die sich während eines Eheseminars auf einem Weinberg näher kommen.
Bernhard Strasser - Die Ernte.pdf
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Kommentare: 1
  • #1

    JYupWMLW (Montag, 27 November 2023 12:16)

    1