Diese Kurzgeschichte entstand in einer Phase, in der ich viel über den Tod nachgedacht habe und wie schnell und unerwartet er in unser Leben treten kann. Damals las ich die Jonas-Bücher von Thomas Glavinic. Auch meine Hauptfiguren hießen damals stets Jonas. Hier die gelungenste meiner Jonas-Kurzgeschichten:

Der letzte Geburtstag

Die Sonne schien auf den Balkon, überzog die sich einfärbenden Blätter mit rötlichem Schimmer. Werner saß auf einem Sessel, die Augen geschlossen, das Gesicht gelb, fast weiß von den Sonnenstrahlen, hinter ihm Alles grün, der Wald. Jonas sah ihn lange an. 

"Hast du keine Angst vorm Sterben?", fragte er. 

Werner sagte nichts, hielt die Nase weiter in die Sonne und die Augen geschlossen. Er atmete ein, atmete aus. Langsam öffnete er die Augen und richtete sie auf Jonas. 

"Vorm Sterben?", fragte er. "Angst?" Er sah Jonas so tief in die Augen, dass Jonas nicht wusste, ob Werner ihn für die Frage abstrafte, oder ob auch sein rechtes Auge zu erblinden begann. 

"Weißt du, ich versuche einfach dankbar zu sein", sagte er. "Ich stehe jeden Tag auf, ich bin nicht bettlägerig, die Kinder sind gesund. Was will ich mehr? Wir haben das doch sowieso nicht in der Hand."

"Ich muss dich bewundern", sagte Jonas.

"Wieso? Ich mach doch nichts. Außerdem bist du heute der, der bewundert werden sollte. Du hast Geburtstag."

"Klar, weil ich dafür irgendwas geleistet hab."

"Du hast uns eingeladen. Ohne dich, wären wir heute nicht hier." #

Aus dem Wohnzimmer hörte man die spielenden Kinder kreischen.

Jonas wollte ihm sagen, dass er eigentlich nicht hatte feiern wollen, dass er nur wegen Werner alle eingeladen hatte, aber er unterließ es. Werner blinzelte wieder in die Abendsonne. 

"Ich meine, ich lamentiere dir monatelang die Ohren voll, dass wir uns finanziell übernommen haben, dass das Auto bald seinen Geist aufgibt, die Spülmaschine kaputt ist, das Konto überzogen ist..." Jonas schüttelte den Kopf. "Scheiße, ich jammere ständig wegen dem Geld rum und ich hatte keine Ahnung, dass du selbst Probleme hast. Ich meine, ein richtiges Problem."

"Probleme sind Probleme."

"Ja, aber das", Jonas deutete auf Werners Kopf. "Das ist... Das ist mehr als ein Problem, das ist..." 

"Schicksal", sagte Werner. 

"Bullshit. Das ist Scheiße! Das ist ungefähr die größte Scheiße, die einem das Schicksal antun kann. Das soll sich selber ficken, das Scheiß Schicksal!"

Jonas hörte seinen Sohn "Kikeriki!" rufen und biss sich auf die Lippen. 

Werners geschlossene Augen richteten sich auf die Sonne. Jonas meinte, ihn Lächeln zu sehen. 

"Und? Kauft ihr das Auto?", fragte Werner. 

"Zu teuer. Außerdem wollten wir wieder etwas mit Autogas. Einmal Autogas, immer Autogas", sagte Jonas. 

"Pfennigfuchser!" 

Jonas lauschte den Geräuschen. Vom Siedlungsspielplatz hörte man Kindergeschrei. Aus dem Wohnzimmer krähte es wie in einem Hühnerstall. 

„Was ist mit der Therapie, von der du mir erzählt hast?“, fragte Jonas.

„Die ist in Deutschland noch gar nicht zugelassen.“

„Aber sie könnte helfen?“

Werners Mundwinkel deuteten etwas an, das Jonas früher als Lächeln gedeutet hätte. 

„Was heißt schon helfen“, sagte Werner. „Helfen kann mir keiner mehr. Aber eine fast dreißig prozentige Chance, noch zwei, drei Jahre zu haben. Ja, das wär schon was.“

„Dann mach es!“


Kurze Unterbrechung:

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Fortsetzung:

Wieder die sanfte Bewegung der Mundwinkel nach oben.

„Gib mir fünftausend und ich mach‘s.“

Jonas versuchte, Tiefe in seinen Blick zu legen. „Das ist doch machbar. Ich könnte einen Kredit…“

„Im Monat“, unterbrach ihn Werner. 

„Scheiße.“

Einen Moment war Jonas sicher, dass Werner ihn anlächelte. 

„Ich kann ihr nicht auch noch einen Schuldenberg hinterlassen“, sagte Werner. Wir bleiben dabei, Kerzen an Wallfahrtsorten anzuzünden.“

Jonas nickte. "Habt ihr eine… ich meine, ist sie abgesichert?" 

Werner nickte. "Und ihr?"

Jonas musste lachen. "Wir? Wir sind dermaßen überversichert, dass sich Marie einen schönen Lenz machen könnte, sollte ich sterben. Bei einem Unfall wird sie sogar dermaßen mit Geld zugeschissen, da bliebe auch für euch noch ein Batzen übrig. Da kannst Du noch fünf Jahre Therapie machen, wenn Du Bock hast." 

"Ein Scherz, oder?"

Jonas grinste. "Der Versicherungsvertreter ist ein guter Freund. Jetzt weißt du auch, wo unser ganzes Geld hin verschwindet: Haus, Auto, Allianz. Ich glaub, die haben die halbe Arena mit meinen Beiträgen finanziert."

Beide lachten. 

"Das war ein Scherz", sagte Jonas. 

Werner lachte noch einmal. Er wischte sich eine Träne aus dem Auge. 

"Also so lustig war der Witz auch wieder nicht."

"Ich weiß." Werner lachte noch einmal. "Stimmungsaufheller!", sagte er. 

"Oh.“

Werner deutete auf seine Schläfe: "Meine Haselnuss drückt genau den Teil weg, wo meine gute Laune sitzt. Brauchst nicht glauben, dass ich wegen dem kleinen bisschen Krebs so mies drauf war. Ich habe die ersten sechs Wochen nicht mehr lachen können. Aber jetzt reicht’s. Ich hab mir was verschreiben lassen."

Es läutete an der Haustüre. "Du wirst es brauchen. Der Clown kommt."

Hans stand vor der Tür, das Gesicht geschminkt. Er keuchte und schleppte eine Heliumflasche herein. Die Kinder sprangen auf und schrien begeistert. 

Hans hievte die Flasche Richtung Balkon. 

Die Kinder umringten ihn und jubelten. Hans hantierte an dem Gasbehälter, schraubte die Schutzkappe herunter, fand keinen freien Platz, wo er sie hinstellen konnte und drückte sie Werner in die Hand. 

Hans installierte das Ventil und kramte eine Tüte Luftballons hervor. "Wer will als erstes?" 

"Ich, ich, ich!", schrie ein Dutzend Kinderkehlen. Und Werner. 

Hans befüllte den ersten Ballon. Es strömte zu viel Helium heraus, der Ballon wuchs rasch an und platzte. Die Kinder schrien auf, der jüngste begann zu heulen. Hans drehte das Ventil niedriger. Er grinste. "Zweiter Versuch."

Während sich alle Kinder die Ohren zuhielten und selbst Knallgeräusche machten, befüllte Hans einen Ballon nach dem anderen. Werner verknotete jeden einzelnen und befestigte sie an einer Schnur. Ein Ballon flog in Richtung Stadt davon. 

Den größten Ballon bekam Jonas Sohn. Mit seinen kleinen Fingern hielt das Kind die Schnur fest in der Hand und schaute stolz hinauf zum Ballon. Jonas sah zu, wie der Kleine durch das Wohnzimmer sprang, die Hand in die Luft reckte und erwartungsvoll nach oben sah, als könne der Ballon ihn mit in die Luft heben und mit ihm davon fliegen. Als der Ballon die Deckenlampe berührte, gab es einen dumpfen Knall und langsam segelte ein Stück Plastik zu Boden. Jonas nahm sein von Weinkrämpfen geschütteltes Kind in die Arme und ließ sich die warmen Tränen an die Wange wischen. 

Werner fuhr dem Kleinen tröstend durchs Haar. Der lief weinend zu seinem Vater. Jonas hob ihn hoch, hielt ihn fest, hielt ihn lange fest und als sich das Kind Schutz suchend an seinen Vater klammerte, vermischten sich ihre Tränen.

Die Kinder aßen Wiener Würstchen, schauten zu ihren Ballons hoch, die unter der Decke tanzten, oder an ihren Stühlen befestigt waren. Es wurde Abend. 

Nach dem Essen musste Hans überstürzt aufbrechen. 

"Was ist los?", fragte Jonas. 

"Ich mach doch mit meiner Freundin Yoga", sagte Hans. 

"Du machst Yoga?"

"Lachyoga." 

"Du spinnst."

"Ich würde wirklich gerne bleiben. Aber ich bin spät dran. Kann ich die Flasche..."

"Was soll ich denn mit dem Helium?"

"Du hast nicht so weit bringst du sie...?"

"Hans, das passt mir überhaupt..."

"Du würdest mir einen Riesengefallen tun. Ich muss echt."

Jonas machte eine abwehrende Handbewegung. 

"Danke. Hast einen gut."

Später verabschiedete sich auch Werner. 

Jonas umarmte ihn. "Wenn irgendwas ist, ruf mich auf dem Handy an. Handy, verstehst du mich? Ich bin sofort da, wenn du mich brauchst."

Werner nickte. Jonas blickte ihm nach, sah wie seine Frau ihm die Stufen hinunter half. 

"Machs gut!", rief ihm Jonas hinterher und seinen Magen durchwühlte ein Abschiedsgefühl das er sonst nur von Flughäfen kannte. 

Am nächsten Morgen hatte Jonas noch Kopfweh vom Federweißer. Die Gaszentrale lag in der Nähe seines Büros und er wollte die Gasangelegenheit noch vor der Arbeit erledigt haben. Seine Frau hatte ein ungutes Gefühl, eine Gasflasche am Balkon stehen zu haben. 

Die Flasche war noch schwerer als sie aussah. Jonas verrenkte sich leicht den Arm, als er sie hoch hievte. Er rief seiner Frau noch ein "Bis heute Abend" in die Küche und schleppte keuchend die Flasche ins Treppenhaus. Stufe für Stufe stieg er nach unten. 

Unten angekommen schloss er sein Auto auf und stemmte die Gasflasche in den Kofferraum. Jonas hielt inne, japste nach Luft. Er hoffte, niemals eine Panne zu haben, weil dort, wo sich bei normalen Autos der Ersatzreifen befand, in seinem Auto der LPG- Tank und ein Pannenspray, dessen Wirkfähigkeit er misstraute, befand. 

Er schloss den Kofferraum und setzte sich ans Steuer. 

Der Motor ruckelte. Seit dem Winter war jeder Morgen, an dem der Motor startete, für ihn ein kleines Wunder. 

Als er nach hinten rangierte, rumpelte es im Kofferraum. "Verdammter Hans", dachte Jonas und hoffte, die Gasflasche so rasch wie möglich loswerden. 

Auf dem Weg runter in der Stadt sah er, dass die Durchgangsstraße wegen einer Baustelle gesperrt war. Jonas fluchte, die halbe Stadt schien gesperrt. Er drehte am Lenkrad und bog scharf rechts in die Gasstraße ab. Wie passend, dachte er. Es rumpelte im Kofferraum. 

Er würde drei Kreuzzeichen machen, wenn er das Scheiß Helium endlich abgegeben hatte, dachte er. 

Vorsichtig fuhr er den Stadtberg hoch, aber sobald er aufs Gaspedal trat, oder bremste, rumste es im Kofferraum. 

Als er endlich die Ausfahrtsstraße erreicht hatte, beschleunigte er. Je schneller er die Flasche loswurde, desto besser. 

Auf halber Strecke fiel ihm ein, dass die Schutzkappe noch auf dem Balkon lag. Egal, dachte er. Die würde er halt morgen abgeben. 

Er beschleunigte weiter, obwohl er nur 80 fahren durfte. Es rumpelte im Kofferraum. 

Das Handy vibrierte. Er griff in die Hosentasche. Es war Werner. "Verdammt", dachte Jonas und die Hand, die er sich verstaucht hatte, begann so sehr zu zittern, dass ihn das Handy herunterfiel. Er schaute nach unten. Das Handy lag genau zwischen seinen Füßen. Er zögerte, kein Gegenverkehr. Er zögerte. Immer noch keiner. Das Handy vibrierte. Werner mobil ruft an. Es musste wichtig sein. Jonas bückte sich, griff daneben, sah nach oben, griff wieder, dann sah er das Auto, dachte noch, der Wixer, viel zu schnell. Dann verriss er das Steuer, wich dem anderen aus, der andere hupte, er riss das Steuer zurück, etwas rumpelte, etwas schlug mit voller Wucht gegen den Kofferraum. Etwas knallte. Jonas Handy lag auf dem Boden, verstummte sofort. Zum Schluss, kurz bevor es sein Trommelfell zerfetzte, musste er an Werner denken. Und komischerweise auch an die Allianz. Jonas lächelte.


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