Die große Krise

Die Tagebucheinträge eines politischen Menschen in einem bayerischen Dorf, der versucht zu analysieren, wie es dazu kommen konnte, dass die größte Krise seit dem Weltkrieg in eine totale Katastrophe führte. Dieses historische Zeitdokument stammt aus dem Jahr 2021.

Die große Krise - Ein Tagebuch

13. Mai

 

Seit über einem Jahr liegt das ganze Land im Chaos. Die Regierung, zerstritten. Die Politiker machen was sie wollen, ohne das Volk weiter im Blick zu haben. Das Volk gespalten und wütend. Der bange Blick richtet sich auf eine ungewisse Zukunft. Vielen steckt die letzte Wirtschaftskrise noch in den Knochen. Die allerdings ein Fliegenschiss sein wird, verglichen zu dem, was noch kommen könnte. Die Menschen haben Angst um ihre Anstellungen. Viele haben ihre Arbeit schon verloren. Die Stimmung auf den Straßen in Berlin, aber auch hier auf dem Land wird von Monat zu Monat radikaler. Ich denke, es ist ein guter Moment, um die Geschehnisse festzuhalten, um den nachfolgenden Generationen wenigstens im Ansatz zu erklären, wie es so weit mit Deutschland kommen konnte.

Ein Riss geht durch das gesamte Land. Die eine Hälfte ist mit den aktuellen Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der schwelenden Krise halbwegs einverstanden. Jedenfalls schweigt sie. Die andere protestiert immer lauter. In Berlin und allen größeren Städten kam es zu Massenkundgebungen. Sogar hier im Dorf versammeln sich die Regierungsgegner und werden immer lauter und selbstbewusster. Ginge es nach der Lautstärke und der Sichtbarkeit der Kundgebungen, kommt es einem gar so vor, dass es im Dorf kaum noch Anhänger der verbliebenen basisdemokratischen Parteien gibt. Auch mein Bruder Alois bekennt sich inzwischen offen zur radikalsten der rechten Parteien. Wir haben viel darüber diskutiert. Er nennt mich ein Schlafschaf, das nicht erkennt, was im Land gerade wirklich geschehe. Alois versucht mich für die Ziele der Partei zu begeistern. Sie seien eine echte Alternative für Deutschland, sagt er. Ich entgegne stets, dass ich immer ein SPD’ler sein werde, auch wenn sich die Partei im freien Fall befindet. Alois beginnt dann meist eine flammende Rede, dass seine Partei derzeit die einzige sei, die sich wirklich um die Menschen kümmere. Die den Wahnsinn der Regierung klar ausspreche und die einzige sei, die dafür sorgen werde, dass wieder Recht und Ordnung in Deutschland zurückkehre. Mein Bruder Alois und ich, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, wir haben eine gemeinsame Firma. Seit der letzten Krise sind uns die Aufträge ausgeblieben und wir haben starke finanzielle Verluste. erlitten Es geht uns dennoch nicht schlecht, nicht schlechter jedenfalls als dem Rest von Deutschland. Aber Alois macht auch die Politik der SPD für den Absturz des Mittelstandes mit verantwortlich. Er ist überzeugt, dass nur seine Partei dafür sorgen wird, dass die vielen Restriktionen gegen die Unternehmer beendet werden. Oft haben wir darüber gestritten, dass viele der politischen Entscheidungen der Regierung durchaus zur Krisenbewältigung einen Sinn hatten. Aber in dem Punkt kommen Alois und ich nicht mehr zusammen. Auch mein Vorwurf, dass seine Partei voll von braunem Pack sei, lässt er nicht gelten. Die Partei könne nichts dafür, wenn ihre absolut notwendige Politik auch Zulauf aus dem extrem rechten Lager habe. „Schau mal all die Leute an“, sagt der Alois dann. „Das sind alles normale, friedfertige Menschen. Da ist keiner radikal rechts oder judenfeindlich oder sonst was. Sie fordern nur ihr Recht ein, frei und selbstbestimmt arbeiten zu dürfen und dass ihre Kinder keine Angst mehr haben brauchen!“

Im September sind Wahlen. Die Parteienlandschaft ist derart zersplittert, dass es womöglich nicht einmal mehr auf eine große Koalition wie aktuell hinausläuft. Die Parteien in den radikalen linken und rechten Rändern haben massiven Zulauf. Die alten Volksparteien, die Christlichen und die SPD, verlieren weiter massiv an Stimmen. Alois‘ Partei, die sich vor einigen Jahren noch im einstelligen Bereich befand, kam bei den letzten Landtagswahlen im Osten auf über zwanzig Prozent. Sie zeigt auf der Straße große Präsenz. In Berlin wehen wieder die Schwarz-Weiß-Roten Reichsflaggen. Man kommt sich vor wie in einer längst untergegangenen, dunklen Zeit.

 

16. Juli

 

Jetzt ist passiert, was lange schon befürchtet wurde. Mein Bruder Alois schimpft und scheltet mich. Er hätte es doch immer schon gewusst. Das hätte ich jetzt mit meinen Sozialdemokraten. Jetzt sei genau das passiert, wovor er und die anderen Freunde im Dorf immer gewarnt hätten. Noch vor der Wahl hat die Regierung endgültig die letzten Reißleine gezogen und als allerletztes Mittel gegen die Krise eine radikale Notverordnung erlassen.

 

18. Juli

 

Das Land ist kurz davor, ins Chaos abzugleiten. Alois jubelt und seine politischen Gesinnungsgenossen ziehen feiernd durch das Dorf. Die politische Stimmung im Land hat endgültig gedreht. Viele Parteien, allen voran die Oppositionsparteien nutzten die kippende Stimmung und stellten sich im Parlament gegen die Notverordnung. Die Ereignisse überschlagen sich. Die Notvervordnung ist zerschlagen. Die Regierung in Auflösung inbegriffen. Die Regierung ist endgültig gescheitert! Nun blickt alles auf die Wahlen im September!

14. September

Alois feiert mit seinen Gesinnungsgenossen auf dem Dorfplatz. Die Wahl wurde zu einem schweren Fanal gegen die etablierten Parteien. Trotz extrem hoher Wahlbeteiligung von 82% hat die SPD erneut schwere Verluste eingefahren. Der große Gewinner ist die Partei von Alois und seinen Spezln. Über 18 Prozent haben sie eingefahren und sind nun, da sich die übrigen Parteien gegenseitig zerfleischten, die zweitstärkste Fraktion im Land. Obwohl die Wirtschaftsverbände im Wahlkampf dazu aufgerufen hatten, nur Parteien zu wählen, die auf dem Boden der Verfassung stehen, konnte die rechtsradikale Partei aus sämtlichen Lagern Stimmen einfahren.

 

13. Oktober

 

Bei der Eröffnung der ersten Sitzung des Parlaments sind die Abgeordneten der Partei alle in brauner Parteiuniform erschienen. Am selben Tag kam es in Berlin zu progromartigen Ausschreitungen. Sie richteten sich gegen alle Feindbilder der Partei. Die Sorge im Ausland über die Radikalisierung Deutschlands wuchs so sehr, dass der Präsident in einer Erklärung die ausländische Presse beschwichtigen musste, dass in Deutschland kein Rechtsputsch bevorstehe. Ich weiß nicht, ob ich dieses Tagebuch weiterführen möchte. Die schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen. So bleibt die Hoffnung, dass die Talsohle der Demokratie in Deutschland nun erreicht ist und es ab jetzt, spätestens nach Beendigung der Krise, wieder aufwärts gehen wird.

 

Nur ihr wisst, wie es tatsächlich ausgegangen ist. Lernt aus dieser Geschichte!

 

Euer H. im Oktober 1930


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