Zwei der ältesten kirchanschöringer Familien, sowohl die der Straßers als auch die der Wallners berichten in ihren Familienlegenden von einem geheimnisvollen "Franzosen". Was es mit diesem Franzosen auf sich hat, konnte ich durch eine intensive Recherche zusammen mit Heidrun Straßer vom Heimatverein Kirchanschöring entschlüsseln. Aus dem Nebel der Geschichte tat sich das Leben des Korporal Scheid hervor, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege auch in Kirchanschöring stationiert war.
Am 11. Oktober 1805 bereiteten sich die österreichischen Soldaten bei Ulm darauf vor, dem Napoleonischen Heer entgegenzutreten. General Karl Mack von Leiberich hatte mehrere Regimenter unter seinem Kommando. Darunter auch das Infanterie Regiment Nummer Elf aus Prag. Einer der Soldaten des böhmischen Regiments war der Korporal Martin Scheid.
Martin Scheid war der älteste von drei Brüdern, die alle im Dienste unterschiedlicher deutscher Staaten standen. Josef Scheid war Beamter im hessischen Darmstadt. Johann Scheid in Württemberg. Ihre Mutter entstammte einem Adelshaus aus Mainz. Sophia Thecla Scheid war eine geborene von Hörnigk. Bekannt war ihre Familie in Mainz, weil einer ihrer Vorfahren ein berühmter Professor an der dortigen Universität war.
Martin Scheid hatte eine militärische Laufbahn eingeschlagen und diente seit einigen Jahren der k.u.k. Armee Österreich-Ungarns. Geboren 1775 war Martin Scheid bei Beginn des dritten Koalitionskrieges gegen Napoleon 30 Jahre alt. Seine Ausbildung zum Kadett hat er wahrscheinlich in der Militärakademie in Prag durchlaufen. Er gehörte zwar zu den privilegierten Kadetten, allerdings nicht zu den höchst angesehenen. Sonst hätte er seine Militärkarriere bei einer der prestigeträchtigeren Waffengattungen wie der Kavallerie begonnen. So blieb für ihn nur die wenig feudale Infanterie, wo er als junger Fähnrich Teil der IR11, der kaiserlich-königlichen böhmischen Infanterie Nummer Elf war.
Seit 1801 war das IR11 nach ihrem neuen Besitzer Erzherzog Rainer benannt. Da war Martin Scheid bereits Unterleutnant. Damals mündete man nicht anhand guter Leistungen in die nächsthöhere Offiziersstufe. Martin Scheid musste warten, bis einer seiner Vorgesetzten den Dienst quittierte, oder freiwillig aus dem Dienst ausschied. Wurde man sich einig, konnte er dem Vorgesetzten die Charge nun abkaufen. Das Überspringen eines Dienstgrades war für einen Offizier, der nicht von der Pike auf gedient hatte, nicht möglich. Martin Scheid kaufte sich für ungefähr 2000 Gulden den Posten des Unterleutnants.
Bereits im August hatte Napoleon mit der Verlegung seiner Grande Armee an den Rhein und Richtung Donau begonnen. Dort schlossen sich im Oktober die Truppen aus Bayern, Württemberg und Baden an. Die Wirren der Napoleonischen Kriege sorgten auch in der Familie Scheid dafür, dass die Brüder sich auf unterschiedlichen Seiten als Kriegsgegner gegenüberstanden.
General Mack bereitete Ulm, Memmingen und Kempten zur Verteidigung gegen die anrückenden Franzosen vor, die schließlich am 6. Oktober die Donau überschritten.
Bald waren die in Ulm stationierten österreichischen Truppen von den Franzosen umzingelt. Mack und Erzherzog Ferdinand versuchten am 11. Oktober mit zwei Kolonnen die Franzosen anzugreifen und aus ihren Stellungen zu vertreiben. Die böhmische Infanterie mit Korporal Scheid befand sich in der linken Kolonne, die unter General Ferdinand und Feldmarschall Leutnant Schwarzenberg Richtung Haslach vorrückte.
Der Angriff schien zu funktionieren, die Österreicher standen plötzlich mit 35000 Mann General Dupont gegenüber. Dieser fürchtete, dass er im Falle eines Rückzuges von den Österreichern verfolgt und seine Truppen aufgerieben werden würden. Daher wagte er das gefährliche Manöver und griff die zahlenmäßig weit überlegenen Österreicher in einer Kamikaze Aktion an.
Die aggressiven Manöver der Franzosen verfehlten ihre Wirkung nicht und die Österreicher wagten es nicht, alle Truppen gegen die vermeintlich stärkeren Angreifer einzusetzen. So gelang es Dupont, die Österreicher bis zum Sonnenuntergang hinzuhalten. Die Österreicher verpassten die günstige Chance, aus der Belagerung auszubrechen und mussten sich wieder nach Ulm zurückziehen. Sie hatten 1100 Tote und Verletzte zu beklagen. Martin Scheid blieb unversehrt.
Der Rest des Feldzugs von Ulm ist Geschichte. Mack und die österreichischen Truppen wurden in Ulm eingeschlossen und mussten kapitulieren. Napoleon stand der Weg nach Wien offen und besetzte die Hauptstadt Österreichs am 13. November kampflos. Napoleon siegte auch in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz und entschied den dritten Koalitionskrieg somit für sich.
Für Österreich, das Salzburger Land, für den Rupertiwinkel und Kirchanschöring und auch für Martin Scheid hatte dieser Sieg gravierende Folgen.
Die französischen Truppen hatten Salzburg bereits am 30. Oktober besetzt. Das Land Salzburg und somit auch Kirchanschöring wurden nach dem Frieden von Pressburg am 26. Dezember ein erstes Mal Österreich zugeschlagen.
Die Familie Hofer aus Kirchanschöring, die ihr Leben lang Angehörige des Salzburger Erzbistums gewesen waren, wurde mit Beginn des Jahres 1806 zu österreichischen Staatsbürgern. Die Hofers waren eine Familie, die durch gezielte Hochzeiten zu reichen Wirtsleuten und gut situierten Bauern geworden waren. In Anschöring gehörte der Familie der Felber Wirt. Vor einigen Jahren hatte sich der alte Andreas Hofer das Mangsbauerngut gekauft, um es seinem Sohn Johann zu übergeben. Im Dachstuhl beim Mangsbauern erinnert eine Inschrift bis heute daran, dass dieser damals den Hofers gehörte.
Johann Hofer lebte noch, als im Jahr 1806 die österreichischen k.u.k. Truppen in Kirchanschöring auftauchten. Der alte Mangsbauer hatte sieben Kinder. Das jüngste der Kinder war die 24-jährige Maria Anna.
Auch Korporal Scheid hielt sich 1806 in Kirchanschöring auf. Es herrschte mal wieder ein kurzer Frieden in einer kriegerischen Zeit. Im Dorf war er eine Attraktion. Beeindruckt ließen sich die Bauern vom Korporal von den Napoleonischen Kriegen berichten. Bald hatte er den Spitznamen „Der Franzose“ inne, obwohl er ja eigentlich ein Deutscher, streng genommen ein böhmischer Österreicher war.
Auch die heimische Damenwelt wurde auf den schneidigen Soldaten aufmerksam. Eine von ihnen war die jüngste Mangsbauerntochter Maria. Gut möglich, dass Scheid beim Mangsbauernhof oder beim Felberwirt einquartiert war.
Es kam, wie es kommen musste. Im heißen Monat Juni bahnte sich zwischen Maria und dem Korporal Scheid eine Romanze an und wenige Wochen später bemerkte Maria, sie ist schwanger. Es war die Zeit der Säkularisierung und durch Napoleon wehte ein liberalerer Wind. Ob der auch bis ins österreichische Kirchanschöring vorgedrungen war, erscheint wenigstens zweifelhaft. Ein uneheliches Kind war damals wie noch lange Zeit später eine schwere Schande.
Aber etwas war ungewöhnlich, denn Martin Scheid erkannte die Vaterschaft an. Das bedeutete, dass die am 20. Mai 1807 geborene Anna Maria den Namen Scheid annehmen durfte. Bei der Taufe war die Patin Ederin vom Lenzengut im Kirchhof, eine Maria Pattinger und ein Wundarzt dabei. Das Kind war also eine legitimierte Scheid, vielleicht war sogar von Heirat die Rede. Für Korporal Scheid war eine wohlhabende Frau essentiell für den weiteren Verlauf seiner Karriere. Ein Offizier konnte seine Laufbahn nur etablieren, wenn die Mitgift der künftigen Ehefrau gesichert war. Die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Todes war hoch und der Staat versuchte so sicherzustellen, dass die Witwen grundsätzlich finanziell versorgt waren. Die mögliche Mitgift vom alten Mangsbauern für seine jüngste Tochter dürfte hoch genug gewesen sein, dass Korporal Scheid dies zumindest in Erwägung zog. Letztendlich reichte sie trotz des Hofer Reichtums wahrscheinlich nicht, denn Martin Scheid entschied sich für die militärische Karriere und es kam zu keiner Hochzeit. Die kleine Anna Maria wuchs als uneheliches Kind auf.
„Der Franzose“ musste zurück an die Front. Denn auch Napoleon hatte nur eine kurze Pause eingelegt und die Koalitionskriege gingen weiter.
Während sich der vierte Koalitionskrieg in erster Linie zwischen den Franzosen und Preußen abspielte, nutzten die Österreicher die kurze Erholungsphase, um 1809 die vermeintlich erschöpfte französische Armee anzugreifen.
Der fünfte Koalitionskrieg begann mit einem Angriff der Österreicher auf das mit Frankreich verbündete Bayern. Politisch gesehen befanden sich Martin Scheid und auch die Kirchanschöringer auf Seiten der Österreicher. Die Österreicher rückten über den Inn vor, auch in Salzburg wartete eine Division auf ihren Einsatz.
Die Österreicher schlugen die Bayern bis hinter die Isar zurück, ehe der Erzherzog von den Franzosen gestoppt wurde. Wieder erlitten die Österreicher empfindliche Niederlagen und Napoleon rückte umgehend ins österreichische Kernland vor und besetzte abermals Wien.
Die Österreicher sammelten sich am linken Donauufer mit 96000 Mann. Darunter auch die Böhmische Infanterie No 11 mit Martin Scheid. Die 3000 Mann starke Einheit war der Brigade Waquant unterstellt. Am 21. Mai begann die Schlacht von Aspern.
Napoleon versuchte mit seinem Angriff auch das linke Rheinufer zu übernehmen. Die Österreicher leisteten erbitterten Widerstand. Martin Scheid und die böhmische Infanterie hatten den Auftrag, den von den Franzosen besetzten Kirchhof von Aspern zurückzuerobern. Im Kartätschenfeuer der Franzosen rückte die Einheit von Martin Scheid auf das Dorf zu. Erzherzog Rainer höchstselbst unterstützte mit seiner Gegenwart die Moral der Truppe. Es gelang den Österreichern, Aspern zu erobern.
Doch die Schlacht war noch nicht vorbei. Die Österreicher dachten fälschlicherweise, dass sie Napoleons Hauptarmee konfrontiert hatten, doch die Franzosen warteten auf die Verstärkung und setzten am nächsten Morgen mit frischen Kräften erneut zum Angriff an. Die Divisionen des Rainer-Regiments wurden von allen Seiten angegriffen und erlitten schreckliche Verluste. Der Bataillonsbefehlshaber wurde getötet und alle hohen Offiziere verwundet.
Trotz der hohen Verluste konnten die Österreicher einen ungemein wichtigen Sieg feiern, denn sie hatten Napoleon, der bis dahin den Nimbus der Unbesiegbarkeit innehatte, die erste bedeutende Niederlage auf dem Schlachtfeld beigebracht.
Ein entscheidender Sieg war es allerdings nicht. Mehrere Wochen lang standen sich beide Armeen abwartend gegenüber und rüsteten sich mit Nachschub auf. Mehr als 300000 Soldaten standen sich gegenüber, bis es im Juli schließlich zur mehrtätigen Schlacht am Wagram kam.
Das Gemetzel endete mit einem Sieg Napoleons, aber kaum zu kompensierenden Verlusten auf beiden Seiten. Die böhmische Infanterie und Martin Scheid blieben bei Wagram weitgehend verschont. Es war der letzte große Kampfeinsatz von Martin Scheid in den Napoleonischen Kriegen.
Vielleicht hatte die Mutter seines Kindes, Anna Maria Hofer, aus dem fernen Kirchanschöring die Weltereignisse verfolgt. Doch ungeachtet dessen, wie verbunden sie noch mit ihrem früheren Liebhaber war, ordnete Anna Maria ihr Leben zu Hause neu. Während Martin Scheid Richtung Wien marschierte, heiratete sie Josef Zebhauser, den Sohn vom Voglaicher Jellbauern. Beide hatten ein langes gemeinsames Eheleben vor sich. Allerdings würden sie keine gemeinsamen Kinder großziehen. Ihr einziges Kind Andreas wurde nur wenige Monate alt.
Martin Scheid kehrte nach der Schlacht von Wagram zurück nach Prag und setzte seine Karriere fort. 1820 war er bereits Oberleutnant. 1827 war er als Hautpmann einer der höchsten Offiziere im 11. Infanterie Regiment.
1829 wurde der Hauptmann in den Ruhestand versetzt. Er war 54 Jahre alt. Die Pensionierung erfolgte aus gesundheitlichen Gründen. Nur kurz darauf, am 29. März 1829 verstarb Martin Scheid in Prag. Er starb, wie übrigens viele seiner Anschöringer Nachkommen, an einer Lungenlähmung.
Er hinterließ in Kirchanschöring eine zwölfjährige Tochter, die inzwischen beim Jellbauern aufwuchs.
Anna Maria Scheid war bereits 38 Jahre alt, als sie den sechs Jahre jüngeren Franz Wallner aus Redl heiratete. Mit dieser Hochzeit gründete die „Tochter vom Franzosen“ gleich zwei Familiendynastien, die das Dorfleben Kirchanschörings mehr als 150 Jahre lang prägen sollten.
Bis 1848 bekamen Franz und Anna-Maria Wallner drei Kinder. Die älteste, Theresia, erbte den Jellenbauernhof. Ihr Schwiegersohn wurde der Schladerersohn Sebastian Straßer, der spätere Bürgermeister Anschöring. Der älteste Sohn der Wallners, Franz Wallner, wurde der erste Mangsbauern namens Wallner.
Auf beiden Seiten der Familien wurde noch zweihundert Jahre später vom „Franzosen“ oder vom „Napoleon“ gesprochen. Was es mit diesem längst zur Legende stilisierten Vorfahren auf sich hatte, wusste bald niemand mehr. Welchen immensen Einfluss die Begegnung mit dem Franzosen auf die Familien hatte, lässt sich daraus schließen, dass bis heute mit geheimnisvollen Unterton von ihm gesprochen wird.
Mehr Texte über unsere Heimatgeschichte: Hier klicken
Hier findest Du weitere Anschöringer Geschichten. Von Heimatgeschichte, die Menschen über Fußball bis zur Literatur. Zu den Anschöringer Geschichten
Eine Recherche über Luise Rinsers Zeit in Kirchanschöring anhand ihrer literarischen Autobiographie "Den Wolf umarmen" Luise Rinser in Kirchanschöring
Die Strasser zu Niederalm und Söllheim:
Eine Recherche über die ältesten Verbindungen der Familie Strasser nach Kirchanschöring, Laufen und den Rupertiwinkl.
Die heutigen Straßer aus Kirchanschöring stammen vermutlich keinem adeligen Geschlecht ab. Befasst man sich aber mit den spätmittelalterlichen Verbindungen eines alten Adelsgeschlechtes namens Strasser, das bereits im 15. Jahrhundert Güter zu Kirchanschöring besessen hat, lassen sich erstaunliche Persönlichkeiten mit engen Verbindungen in den Rupertiwinkl erforschen: Hier klicken
JYupWMLW (Montag, 27 November 2023)
1
jJQaBOcg (Dienstag, 27 September 2022 03:32)
1