Die militärische Spezialoperation

Eine Kurzgeschichte über den Krieg in der Ukraine

Militärische Spezialoperation Kurzgeschichte
Die militärische Spezialoperation - Die Kurzgeschichte

Diese Kurzgeschichte über eine militärische Spezialoperation ist im März 2022, wenige Wochen nach dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine entstanden. Hintergrund der Geschichte sind einerseits die vielen, teils kaum zu glaubenden Geschichten aus den Anfangstagen dieses Ukraine-Krieges. Hinzu kam ein Gespräch mit Floristen darüber, welche Rollen Blumen in einem Angriffskrieg spielen könnten. Entstanden ist nicht nur eine Kurzgeschichte über den Krieg, sondern eine Geschichte für den Frieden. Da die militärische Spezialoperation Russlands in der Ukraine nicht als Angriffskrieg bezeichnet werden darf, ist die so entstandene Kurzgeschichte selbstverständlich rein fiktiv. Die moderne Kurzgeschichte könnt ihr ganz unten downloaden.

Die militärische Spezialoperation

Die Explosionen der Artillerie waren heute Morgen besonders realistisch. Vladomir und Igor beobachteten von ihren Gefechtstürmen aus die weit entfernten Lichtblitze der Einschläge. Leichtes Donnergrollen war zu hören, die Erde vibrierte leicht. Nach Tagen der Pause schien das Manöver an der Grenze fortgesetzt zu werden. „Endlich“, sagte Vladomir. „Das einzige, was mir noch mehr auf den Nerv geht als Manöver ist, die Langweile zwischen den Manövern.“

Sie waren um halb Fünf aufgestanden, um die Nachtwache abzulösen. Die Laune der beiden war wesentlich besser als an den Morgen zuvor. „Es tut sich was im Westen“, hatten die Kameraden voller Vorfreude gemeldet und zum blitzenden Horizont gedeutet.

Die ersten beiden Stunden ihrer Wache beobachteten beide das donnernde Spektakel am Himmel. Wieder und wieder flogen Maschinen der Luftwaffe über ihre Köpfe hinweg. Es war nach Tagen der Pause der bisher intensivste Tag des gesamten, schon seit Wochen andauernden Manövers.

„Ob wir heute endlich wieder ausrücken? Wenn ich die Barracken auch nur einen Tag länger sehen muss, desertiere ich und gehe freiwillig in den Bau. Dort kann es unmöglich noch langweiliger sein.“

„Sicher. Heute geht es weiter. Das habe ich im Urin. Die können uns ja nicht ewig hier vergammeln lassen.“

Mit Aufgang der Sonne ertönte ein schrilles Signal. Endlich, die Sirene, dachten beide. Sofort erwachte das gesamte Lager zum Leben. Die Sirenen forderten energisch aufheulend Marsch- und Gefechtsbereitschaft ein. Die höchste Stufe, die es im Manöver bisher gegeben hatte. „Endlich“, rief Vladomir und beide blickten sich einen Moment lang erleichtert an.

Von ihrem Wachturm aus sahen sie, wie die Mannschaften aus den Barracken strömten wie Ameisen aus ihrem Haufen. Jeder einzelne wusste exakt, wohin er musste, in welcher Bewaffnung er anzutreten, welches Fahrzeug er zu besteigen hatte. Innerhalb weniger Minuten war der Strom versiegt, der Ameisenbau geleert.

Als sich eine erwartungsfrohe Ruhe über die Barracken legte, kam der Aufruf des Unterleutnants, auch die Wachstände zu räumen. Vladomir und Igor blickten sich mit lächelnden Mundwinkeln an. Es ging endlich los. 

Hinweis:

Das große Manöver, von dem seit Tagen hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Sie schulterten ihre Gewehre, eilten im Marschschritt zur Panzerkolonne und bestiegen die ihnen zugewiesenen Panzer Z18 und Z88. Sie wünschten sich zuvor noch Hals und Beinbruch und hofften, sich über Funk zu hören, soweit die Manöversituation es erlaubte.

Kaum hatte sich die letzte Panzerluke geschlossen, brach ein ohrenbetäubender Lärm aus. Eine Hundertschaft aus Panzer, Mannschaftswagen und Raketenwerfer setzte sich in Bewegung. „Auf Nimmerwiedersehen“, verabschiedete sich Vladomir von den Barracken.

Nach einigen Werst teilte sich die Kolonne in drei Teile auf. Vladomir und Igors Einheit steuerten auf Südwesten zu.

Warum nach Südwesten? Dort ist doch die Grenze!, frage sich Vladomir, blieb aber stumm. Er war einer der rangniedersten Soldaten und hatte keine Fragen zu stellen.

Die Panzer rollten durch unendliche Birkenwälder. Wie schon in den Manövern zuvor war weit und breit kein Dorf, keine Menschenseele zu sehen. Vladomir war gespannt, welches Szenario sich der Stab diesmal ausgedacht hatte. Sicher war nur, dass es sich nun einzig um das lange erwartete Großmanöver handeln konnte. Das größte Manöver, das Vladomirs Generation jemals gesehen hätte. Aus der Ferne war immer dann, wenn die Kolonne stockte und der Panzer zum Stehen kam, fernes Donnergrollen zu hören. Auf den Monitoren im Inneren waren immer wieder Flugzeuggeschwader zu sehen, die mit der aufgehenden Sonne wie Zugvögel über die Kolonne hinweg schwebten.

Als die Fahrzeuge die Wälder verließen und auf freies Feld stießen, verlangsamte sich die Geschwindigkeit, bis Vladomirs Panzer ganz zum Stillstand kam und es auch nach Minuten nicht weiterging. „Was ist los?“, rief der Panzerkommandant ins Funkgerät. Die Verbindung war schlecht und es war überwiegend statisches Rauschen zu hören. 

Vladomir erhielt den Befehl, aus der Luke zu klettern und nach dem Rechten zu sehen. Er öffnete die Luke und steckte den Kopf nach draußen. Es war ein herrlicher, klirrend kalter Morgen. Erst jetzt, als er die kilometerlange Kolonne vor und hinter sich sah, begriff er das gigantische Ausmaß des Manövers. 

„Warum geht es nicht weiter, Kamerad?“, rief er einem der Soldaten in einem der vorderen Fahrzeuge zu. 

„Wir wissen nicht, wohin!“, rief der zurück. „Vorne ist eine Weggabelung. Und beide Schilder, die nach links und die nach rechts, weisen in Richtung unserer Hauptdestination!“

Vladomir musste kurz grinsen. Das war ja ein schlecht vorbereitetes Manöver, dachte er. „Danke, Kamerad!“ rief er. 

Vladomir zog den Kopf ein und kehrte in das Innere des Panzers zurück. Nachdem er Bericht erstattet hatte, wurde er vom Kommandant schon nicht mehr beachtet. Er war über Funk bereits unterrichtet worden. Es knackte im Funkgerät. Die Stimme eines Oberst befahl: „Jedes zweite Fahrzeug fährt nach links, alle anderen nach rechts.“ 

Der Panzerkommandant, in der Truppe als harter Hund gefürchtet, schaute seine Mannschaft süffisant lächelnd an. „Das ist ein Witz“, murmelte er. „Das kann nur ein Witz sein.“ Vladomir tat es seinen Kameraden gleich und nickte pflichtbewusst.

Langsam kroch die Kolonne der Kreuzung entgegen. Vladomirs Panzer war an der Reihe, nach rechts abzubiegen. „Diese verdammten Bastarde in ihren warmen Büros“, fluchte der Kommandant. „Bringen uns um die halbe Schlagkraft unserer Truppe. Das wird sich noch rächen.“ Vladomir wunderte sich der Kommandant so sehr über Fehler aufregte, die er selbst nicht begangen hatte, es war doch nur ein Manöver. 

Die Kolonne rollte weiter über kilometerlange Felder, ohne dass auch nur ein Bauernhof in Sichtweite gelangt wäre. Vladomir wurde schläfrig. Nun, da die Aufregung nach und nach bleierner Langweile wich, spürte er die schlaflose Nacht in seinen Knochen. Eine Weile döste er sogar vor sich hin, streng darauf bedacht, nicht in schnarchenden Tiefschlaf abzugleiten. 

Auf einmal hörte er aus dem Kauderwelsch Dutzender Funksprüche Igors aufgeregte Stimme. „Wir sind im Kreis gefahren!“, stammelte Igor wieder und wieder ins Mikrofon. „Hier Z88. Melde, wir sind im Kreis gefahren. Das Benzin ist ausgegangen. Bitten dringend um Betankung!“

„Die sind im Kreis gefahren, bis ihnen der Sprit ausging?“, rief der Kommandant verächtlich. „Wer hat denen denn ins Gehirn geschissen?“ Der Panzerkommandant machte einen schmutzigen Witz über die Idioten und Versager in Igors Zug und Vladomir biss sich auf die Zunge. 

Mit einem Ruck kam die Kolonne wieder jäh zum Stillstand. „Ein Dorf!“, sagte der Kommandant und zeigte auf den Bildschirm. Aus der Entfernung hörte man einige Gewehrsalven. Warnschüsse, wusste Vladomir. Wie sie es bereits in den vorherigen Manövern geprobt hatten, wurden erst Warnschüsse abgegeben, damit die Bewohner das Dorf kampflos freigaben. Danach blieb es still. Nichts passierte. 

„Warum fahren die nicht einfach weiter? Warum rollen wir nicht mitten über die Häuser dieser Dorftrottel rüber?“, schimpfte der Kommandant. Vladomir versuchte, die Blicke der anderen Soldaten zu lesen. Es waren, wie er, junge, unerfahrene Wehrpflichtige. Auch für sie war es das erste große Manöver. Nur der Panzerkommandant fluchte weiter über die Unfähigkeit des Stabes. „Jetzt stehen wir schon fast eine Viertelstunde vor diesem beschissenen Bauerndorf. Sind uns die Bomben ausgegangen, oder was?“ 

Wieder erhielt Vladomir den Befehl, auf die Luke zu klettern und nach dem Rechten zu sehen. Die Luft war hier nicht mehr so frisch. Dichter Nebel waberte über die Felder. Es roch nach Schießpulver, wie in der Silvesternacht. Ein Geruch, der sofort angenehme Erinnerungen in ihm auslöste. Vladomir hatte einmal gelesen, dass man absichtlich etwas dem Schießpulver beimischte. Etwas, das süchtig machte. Aus der Ferne konnte er die Spitze des kilometerlangen Zuges im Dorf sehen. Es war ein ganz normales Dorf, vielleicht 500, maximal 700 Einwohner. Warum fuhr man nicht einfach durch? Oder war dies bereits die Zieldestination? Aber das Dorf war eindeutig bewohnt. Rauch stieg aus den Kaminen auf. Warum sollte man ein Manöver mitten in einem echten Dorf durchführen?

Wieder hörte Vladomir deutlich Schüsse aus dem Dorf. Nun sah er auch, wie kurz vor dem Dorf Bewegung in die Kolonne geriet. Mehrere Fahrzeuge, darunter auch ein Panzer, drehten um. Erstaunt blickte ihnen Vladomir entgegen. Warum machten sie kehrt, anstatt einfach durchzufahren?

In rasender Geschwindigkeit, als hätten sie es besonders eilig, ratterten der Panzer und etwa ein Dutzend weiterer Fahrzeuge an der Kolonne vorbei. Die wenigen Gesichter, die zu sehen waren, blickten bleich und ernst, als hätten sie ein grauenhaftes Gespenst gesehen. Langsam schloss die Hauptkolonne die Lücke und rückte weiter in Richtung Dorf vor. Dann geriet der Trupp wieder ins Stocken. Einige Fahrzeuge kehrten um, anderen gelang nun aber die Durchfahrt. Als die Kolonne langsam an Fahrt gewann, kehrte Vladomir in den Bauch des Panzers zurück. 

„Viele drehen bei. Andere haben das Dorf passiert“, meldete er. 

„Großartig. Das haben wir selber auch schon gesehen“, knurrte der Kommandant. „Mich würde lieber interessieren, warum sie umdrehen. Egal, wir werden es gleich sehen.“

Aus dem Funkgerät ertönte immer wieder, wie eine Schallplatte mit Sprung, der Satz: „Vorrücken! Das ist ein Befehl! Vorrücken! Das ist ein Befehl!“

Die Kolonne hatte deutlich an Fahrt gewonnen, als sie das Dorf erreichte. Auf dem Monitor mit dem Außenbild sahen sie, wie hunderte von Menschen die Fahrzeuge vor ihnen und auch ihren Panzer umringten. Die Dorfbewohner schwenkten Fahnen und schrien in einer fremden Sprache auf die Manöversoldaten ein. Andere beschimpften sie in ihrer Muttersprache. Das Wort Hurensöhne fiel immer wieder. Und, dass sie nach Hause fahren sollten. Sie hätten hier in ihrem Dorf nichts verloren. 

Einen Moment lang war sogar der Kommandant konsterniert. Wutentbrannt kletterte er die Leiter hinauf und öffnete die Luke. „Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden?“ brüllte er die Dorfbewohner an. Diese bewarfen den Panzer mit Eiern und Gemüse. Einige der Bauern schwenkten Sensen und Dreschflegel. „Geht nach Hause! Das ist nicht euer Dorf! Lang lebe unser Land!“, brüllten die Bauern im Chor. Bäuerinnen schlugen mit bloßen Händen auf den Panzer ein und riefen Worte in ihrer fremden Sprache. 

„Das ist eine militärische Spezialoperation! Wir haben das Recht, hier durchzufahren!“, schrie der Kommandant so laut, dass es auch im Panzer zu hören war. Vladomir und die Soldaten warfen sich verwunderte Blicke zu. „Ich dachte, das ist ein Manöver?“, murmelte er. 

„Steck dir deine Spezial Operation sonst wohin! Verschwindet aus unserem Land!“, schrie einer der Bauern und stellte sich mit weit ausgebreiteten Armen vor einen der voranrückenden Panzer. Der Fahrer zeigte Skrupel, bremste jäh ab. Setzte zurück. Versuchte, dem todesmutigen Mann auszuweichen. Vladomir beobachtete die Aktion auf dem Monitor. Die muss es da drin ziemlich herumschütteln, dachte er bei sich. Oben fluchte der Kommandant weiter. „Bist du lebensmüde? Hau ab, sonst zerfetzen wir dich mit nur einem Schuss!“ 

„Das haben die anderen drei Panzer vor euch auch gedacht!“, rief der Bauer zurück. Und tatsächlich. Der Panzer vor ihnen wendete und fuhr zurück, vorbei an der auseinander stiebenden Menge. 

„Nicht mit mir!“, brüllte der Kommandant und ließ sich nach unten in den Panzer fallen. „Lasst mich ans Steuer!“, befahl er. Die anderen schauten ihn mit einer Mischung aus Angst und Missmut an. Vladomir und den anderen dämmerte es langsam, dass man sie über den wahren Befehl dieses Einsatzes belogen hatte. Aber keiner wagte, etwas zu sagen. Vladomir wusste, dass der Kommandant in jedem einzelnen der letzten, teils brutalen Kriege gedient hatte. Er war in der Truppe eine kleine Berühmtheit für die unzähligen Tapferkeitsauszeichnungen, die er erhalten hatte. Eine gefürchtete Berühmtheit, weil sie ihm für militärische Einsätze verliehen wurden, die andere als Kriegsverbrechen bezeichnet hatten. Der Kommandant übernahm zielstrebig das Steuer des Panzers und hielt geradewegs auf den rebellischen Bauern zu. Dieser blieb mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen stehen. Kurz bevor ihn die alles zermalmenden Ketten des Panzers erfassten, warf sich ein zweiter auf ihn und stieß ihn beiseite. Der Panzer preschte durch das Dorf und hinter ihm, vorbei an den schimpfenden, johlenden, ihre Fahnen schwenkenden Bauern, die noch übrigen Fahrzeuge der Kolonne. „Wir haben schon wieder viele Fahrzeuge verloren!“, meldete der Kommandant in das Funkgerät. „Aber wir sind nun kurz vor der Zieldestination.“ Vladomir hob stirnrunzelnd den Kopf. Etwas im Verhalten des Kommandanten hatte sich verändert. So hatte er sich immer die harte Strenge eines Oberkommandierenden vorgestellt, der ganz real mit seinen Befehlen über Leben und Tod entschied. Vladomir suchte den Blick seiner jungen Kameraden. Keiner wagte es, etwas zu sagen. Aber ihre Blicke verrieten, dass auch sie Angst hatten. Jeder von ihnen war erzogen, seinem Land zu dienen, es zu schützen und sein Scherflein dazu beizutragen, dass es zu alter Stärke fand. Aber sein Leben im Angriff der Brüder und Schwestern des Nachbarlandes zu lassen, das wollte kein einziger von ihnen riskieren. Außer dem Kommandant, das spürten die jungen Soldaten. 

Die verbliebene Kolonne bewegte sich nun in großer Geschwindigkeit fort. Vor und hinter ihnen waren die Fahrzeuge deutlich ausgedünnt, wie Vladomir feststellte. Den Bauern war es gelungen, noch weitere Fahrzeuge zum Umkehren zu bewegen. Er wäre auch gerne umgekehrt. Innerlich betete er, dass ihnen der Treibstoff ausging, so wie Igors Panzer. Aber der Kommandant setzte sich mit seinem Panzer bald an die Spitze der Kolonne und trieb diese mit fanatischem Ehrgeiz in Richtung der Destination. Wo auch immer diese sein mochte.

Bald kam sie in Sicht. Es war eine Großstadt.

„Der'mo“, flüsterte Vladomir. Rauchschwaden stiegen bereits aus den Vororten der Stadt. Es waren nicht mehr viele von den zuvor hunderten Fahrzeugen übrig geblieben. Und ausgerechnet Vladomirs Panzer war es nun, den Zug an vorderster Front anführte. Der Kommandant befahl Gefechtsbereitschaft. Das Kanonenrohr bewegte sich drohend nach links und rechts, als der Panzer in voller Fahrt über die Einfahrtstraße in Richtung Stadtzentrum ratterte. Über den Monitor im Panzer konnte Vladomir erkennen, dass hinter ihm immer wieder Panzer umdrehten und wendeten. „Diese verfluchten Feiglinge“, murmelte der Kommandant. Der Bildschirm war klein und das Bild flimmerte und Vladomir konnte nicht erkennen, ob sie sich einem verteidigungsbereiten Gegner näherten. Aber er hörte das Zähneklappern seiner Kameraden. Es roch mit einem Mal streng nach Ammoniak im Panzer. Der Kommandant drehte sich um, hob die Augenbraue, dann sagte er mit fester Stimme: „Ab jetzt hört jeder auf mein Kommando. Wer sich weigert, wird gar nicht erst das Vergnügen haben, sich vor einem Militärgericht vor Angst in die Hosen zu scheißen. Verstanden?“ 

Vladomir und die anderen Soldaten streckten sich so gerade sie konnten und antworteten wie mit einer Stimme: „Jawoll, Herr Hauptmann, Jawoll!“

Zu Vladomirs Verwunderung blieb es still. Es fiel kein einziger Schuss, auch nachdem sie durch die Straßen der Innenbezirke ratterten. Es war, bis auf das Dröhnen der Gewaltmaschinerie, totenstill in der Stadt. Keine Menschenseele auf den Straßen oder hinter den Fenstern. 

Nach einer halben Stunde ereignisloser Fahrt blieb der Panzer auf einmal stehen. Der Kommandant übergab das Gefährt wieder dem Panzerfahrer und stieg hastig auf die Luke. „Diese verfluchten Bastarde!“, brüllte er. „Sie sind alle weg, diese Landesverräter!“ Wütend kroch er wieder in den Panzer zurück. „Sie sind alle weg! Alle!“

Erleichtert holte Vladomir tief Luft. So ein Glück. Jetzt konnten auch sie wenden und die Stadt verlassen, lebendig, unverletzt und ohne Gesichtsverlust.

„Los! Halte auf das Stadtzentrum zu!“, brüllte der Kommandant auf einmal und griff nach dem Funkgerät: „Melde, wir sind kurz vor der Zieldestination. Stadt nicht kampfbereit. Wir haben nur noch einen Panzer. Aber es wird reichen, um die Stadt einzunehmen.“ 

Triumphierend blickte er nach hinten in die Gesichter der verängstigten Soldaten. „Wir werden heute Geschichte schreiben!“; verkündete der Kommandant. „Wir werden mit einem einzigen Panzer die Stadt einnehmen. Und wenn ich die halbe Innenstadt niederschießen muss! Vollgas!“, rief er und blickte angespannt auf dem Monitor.

In rasendem Tempo rollte der Panzer durch die vollkommen leere Straße ins Stadtzentrum. Vladomir fragte sich, was hier geschehen war. Hatte es einen Giftgasangriff gegeben? Aber er konnte nirgendwo Verletzte, oder gar Leichen entdecken. Wo waren all die Menschen?

Drohend preschte der Panzer durch die Innenstadt. Vorbei an H&M und McDonalds. Die Kanone in Gefechtsbereitschaft, näherte sich der Panzer dem Stadtplatz. Erst jetzt sah Vladomir sie, die Menschen. Sie standen alle, es waren viele Tausend, auf dem Stadtplatz versammelt. Sie hielten Fahnen in den Händen, blickten schweigend dem Panzer entgegen. Etwas war sonderbar. Fast alle verbargen eine Hand hinter ihrem Rücken. Sie versteckten ihre Waffen, vermutete Vladomir und begann zu zittern.

„Halt!“, schrie der Kommandant und ließ das Kanonenrohr auf die Menschenmenge ausrichten. „Nach einem Schuss wird der Spukt vorbei sein. Ziel einfach mitten in den Feind hinein! Feuer auf mein Kommando!“, rief er und begann zu zählen: „Tri, dva, odin!“ 

Doch nichts passierte. Statt eines Schusses wurde das Zähneklappern lauter. Der junge Soldat brach in Tränen aus und schüttelte hysterisch den Kopf. „Ich kann nicht! Ich kann nicht!“ Der Kommandant stürzte sich auf ihn, gab ihm eine Backpfeife und prügelte ihm vom Gefechtsstand herunter. „Ihr werdet alle wegen Desertation exekutiert!“, brüllte er.

Dann blickte er durch das Zielfernrohr und suchte nach einer möglichst großen Menschenansammlung, um den ersten Schuss abzugeben. Als sich das Panzerrohr zu bewegen begann, passierte etwas Sonderbares. Vladomir sah auf dem Monitor, wie die Menschen gleichzeitig die hinter dem Rücken verborgene Hand nach vorne schnellen ließen. Statt einer Waffe hielt plötzlich jeder einen Strauß Blumen in der Hand. Auf dem ganzen Platz schwenkten die Menschen tausende bunter Blumensträuße und hielten sie sich schützend vor die Brust. Erst jetzt sah Vladodmir durch das eingeschränkte Monitorbild, dass die Fassade aller Häuser auf dem gesamten Platz mit Blumen geschmückt waren. Hunderttausende, Millionen Blumen. Ein buntes Blumenmeer. 

Der Kommandant zögerte. Etwas hielt ihn davon ab, auf die Blumen zu schießen. Wohin er auch zielte, sah er Blumen. Er sah noch mehr Blumen. Soweit das Auge und das Zielfernrohr reichten, nur Blumen. „Als würden euch Blumen vor Granaten schützen!“, knurrte er und suchte weiter nach einem geeigneten Ziel. Das Rohr fuhr nach links, das Rohr fuhr nach rechts. Es hob sich, es senkte sich. Es suchte nach einem Ziel, um ein Fanal zu setzen und die Stadt zur Aufgabe zu zwingen. Aber es gab keinen Flecken in der Stadt, der nicht mit Blumen geschmückt war. Die Bewegungen des Zielfernohrs wurden immer hektischer und bald begann sich der Panzer unkontrolliert zu drehen. Das Panzerrohr drehte sich immer schneller und schneller und der Kommandant begann immer heftiger zu atmen und immer lauter zu fluchen und auf einmal hielt er inne. Mit leerem Blick starrte er auf das Zielfernrohr und murmelte: „Ich kann doch nicht auf Blumen schießen.“ 

Im selben Moment stürzten sich die jungen Soldaten auf den Kommandanten .Sie entwaffneten ihn, fesselten ihn und als von ihm keine Gefahr mehr ausging, kletterten zur Luke hinauf. Mit erhobenen Händen und zitternd vor Angst stiegen sie aus dem Panzer. Vladomir erwartete, sofort verhaftet oder gleich exekutiert zu werden. Stattdessen begannen eine Gruppe Kinder, ihre Blumensträuße auf die jungen Soldaten zu werfen. Immer mehr taten es ihnen gleich. Und bald versanken die Soldaten in einem Meer aus Blüten und Blumen. Und mit ihnen der Panzer. Bald erinnerte nichts mehr daran, dass sich unter dem riesigen Blumenhaufen ein Panzer befand. Ein Panzer, in dessen Bauch ein bewusstloser Kommandant davon träumte, wie er vom Präsidenten persönlich einen Orden für ihren größten gemeinsamen Triumph angesteckt bekam.

 

Ende

 

Die schönsten Bilder der Militärischen Spezialoperation:

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Bernhard Straßer - Die militärische Spezialoperation
Erst freut sich der junge Soldat Vladomir, als nach langer Pause das Manöver fortgesetzt wird. Bis er begreift, dass gerade ein Krieg begonnen hat. Ein Krieg, der jedoch anders verläuft als erwartet.
Bernhard Straßer - Die militärische Spez
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