Der Tag an dem wir Jesus kreuzigten und dann die Oma starb

Eine Kurzgeschichte für Kinder und Erwachsene über Tod und Trauer: Wie schreibt man eine Geschichte über den Tod die sich mehr humorvoll als bedrohlich liest? Ich habe mich an den fünfjährigen Jungen erinnert, der ich selbst einmal war. Ich war gerade dabei, meine ersten Erfahrungen als Kind mit dem Tod zu machen. Aber der Tod war, aus meinen Kinderaugen gesehen, etwas völlig natürliches vor dem man keine Angst haben musste. Diese Geschichte von früher über meine Kindheit, wie wir einen Jesus gekreuzigt haben und dann unsere Oma starb, meine ich mich zu erinnern, hat genau so stattgefunden:

Der letzte Tag, an dem ich noch nichts vom Tod wusste, war ein Donnerstag. Sogar ein Gründonnerstag. Ich war fünf Jahre alt und dachte, alles über den Tod zu wissen, was man wissen musste. Vor einigen Tagen war mein Wellensittich gestorben. Am Morgen lag Welli, wie wir ihn genannt hatten, auf dem Boden seines Käfigs. Er rührte sich nicht mehr. Er pfiff nicht mehr. Es war still im Raum. Meine Schwester weinte und meine Mama redete mit uns über den Tod. Sie sagte, dass das, was dort im Käfig lag, nur noch die Hülle vom Welli sei. Das, was Welli ausgemacht hatte, seine Seele, sei nun in den Himmel geflogen. Warum Welli nicht selber in den Himmel geflogen war, wollten wir wissen. Er war doch ein Vogel. Als Mama keine Antwort hatte, vermutete meine Schwester: "Ganz einfach: Weil er in einen Käfig eingesperrt war." Meine kleine Schwester war für Alter schon sehr gescheit.

Am Nachmittag mussten wir nicht in den Kindergarten gehen, weil wir so traurig waren. Stattdessen grub Papa hinter dem Haus ein Loch, in dem wir Welli beerdigten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil wir Welli in einen Käfig gesperrt hatten. Vielleicht wäre er noch am Leben, wenn wir die Türe offen gelassen hätten. Aber dann wäre Welli wohl sofort weggeflogen. Alles, was ich an diesem Gründonnerstag über den Tod wusste, war, dass jemand für immer fortgeht und man sehr traurig ist, weil man ihn vermisst.

Im Kindergarten hatten wir auch über den Tod gesprochen. Darüber, wie Jesus gestorben war. Das war sehr aufregend. Denn alles, was mit Tod oder Gewalt zu tun hatte, war uns streng verboten. Wir durften im Fasching nicht mit Pistolen knallen, meine Eltern verboten mir, mit Spielzeugsoldaten den Zweiten Weltkrieg nachzuspielen und sogar meine Batman-Comics wurden mir wieder weggenommen. Aber im Kindergarten hatten die Fräuleins kein Problem damit, uns sehr detailreich alles darüber zu erzählen, wie die Römer Jesus umgebracht hatten. Da meine Eltern sogar Tom und Jerry für grenzwertig erachteten, übte diese Geschichte über Geißelungen, Dornenkronen und Kreuzigung eine gewaltige Faszination auf mich aus.

 

Es waren inzwischen Ferien und uns Nachbarskinder war langweilig. Jemand hatte die Idee, "Kreuzigung" zu spielen. Aber wie? Wir waren zwar Kinder, die so einige Flausen im Kopf hatten. Aber selbst uns war klar, dass jeder ein Römer sein wollte. Und keiner freiwillig die Rolle des Jesus übernehmen würde. Wesentlich schlimmer als die Vorstellung, dass Jesus letztendlich tatsächlich sterben musste, war für mich, dass die Römer riesige Nägel durch seine Hände und Füße trieben. Wir Kinder diskutierten lebhaft darüber, wie weh das tun musste und versuchten es uns vorzustellen, indem wir uns so fest die Daumen in die Handflächen drückten, bis sie weiß wurden und höllisch schmerzten. Aber bald wurde auch das zu langweilig und wir waren uns einig, dass wir heute noch irgendjemanden kreuzigen mussten. 

Wir begannen unsere Kreuzigung mit etwas Einfachem. Keine Kreuzigung kam ohne ein passendes Kreuz aus. Wir fanden im Schuppen hinter dem Haus zwei alte, bereits morsche Latten, die wir aufeinanderlegten. Aus dem Werkzeugkasten suchten wir uns einen Hammer und ein paar kleine Nägel und nagelten die Latten so aufeinander, dass sie ein Kreuz in Kindesgröße bildeten. Wir fühlten uns wie richtige Zimmermänner, betrachteten stolz unser Werk und sahen, dass es gut war. Das Kreuz war zwar groß, aber irgendwie auch langweilig, weil in unseren Häusern überall derartige Kreuze hingen. Wir wollten aber kein Kreuz, sondern ein Kruzifix. Da sich immer noch keiner freiwillig gemeldet hatte und meine Schwester schwor, uns zu verpetzen, wenn einer von uns gekreuzigt würde, kam uns ein anderer Gedanke.

Da der Papa der Nachbarskinder in der Gemeinde tätig war, lagen bei ihm im Keller riesige Wahlzettel, auf deren Rückseite man recht gut malen konnte. Wir klebten zwei der Wahlzettel aneinander und erreichten so die Größe eines kleinen Erwachsenen. Darauf malten wir mit Wachsmalstiften gemeinsam einen flächenfüllenden Jesus. Einen bärtigen Mann mit weit ausgestreckten Händen. Natürlich verwendeten wir sehr viel Rot, da wir ja im Kindergarten gelernt hatten, was dem Jesus schon alles angetan worden war.

Mit der scharfen Schere aus der Schublade meiner Mama schnitten wir den Schmerzensmann entlang seiner Umrisse aus. Der Wachsmalstift Jesus passte ziemlich genau auf unser selbst gezimmertes Holzkreuz. Als meine Mama kurz nach dem Rechten schaute, sah sie fünf Kinder, die werkelnd und bastelnd in die Arbeit vertieft auf der Terrasse knieten. Sie lächelte, dachte sich nichts weiter dabei und ging wieder ihrer Hausarbeit nach.

Es war ein sonniger warmer Frühlingstag und im Nachbarsbeet ging unsere Oma ihrer Gartenarbeit nach, harkte, säte und goss und sah immer wieder neugierig zu uns Kindern hinüber. Unsere Oma war eine der alten Frauen, die sich jede Woche mehrmals ein Kopftuch über ihren grauen Dutt banden und mit einem uralten Fahrrad ohne Gangschaltung zur Kirche radelten, um den Gottesdienst zu besuchen. Die Oma hatte in ihrer Wohnung sehr viele Marienstatuen und Jesusbilder stehen und sie seufzte sehr viel und sagte dabei "Jessers Maria." Da wir wussten, dass die Oma Jesus sehr liebte und viel Schokolade im Haus hatte und wir Schokolade liebten, beschlossen wir, später der Oma unsere Kreuzigung zu zeigen.

Doch zuvor musste der aus Wahlzetteln herausgeschnittene Jesus, auf dessen Rückseite noch die Namen der letztjährigen kommunalen Kandidaten der CSU standen, ans Kreuz geschlagen werden. Wir zankten uns darum, wer Jesus kreuzigen durfte. Da unser Jesus zwar zwei ausgebreitete Hände hatte, aber sich beide Beine am Ende zu einem einzigen Wulst vereinigten, wie wir es vom Holzjesus in der Kirche kannten, konnten nur drei von uns einen Nagel einschlagen. Meine Schwester hatte Skrupel, Jesus zu kreuzigen. Und wir Jungs einigten uns schließlich, wer in welche Gliedmaßen einen Nagel hauen durfte. Die Kreuzigung an sich war weniger aufregend und bluttriefend, wie wir es uns vorgestellt hatten. Das Papier war dünn. Und obwohl unsere 15 Millimeter Nägel im Vergleich zu den Nägeln, die durch Hände und Füße des echten Jesus getrieben wurden, nur winzige Zahnstocher waren,  rissen sie beinahe die komplette Hand unseres Jesus ab. Wir mussten sie mit Tesafilm wieder ankleben. Der Papierjesus hielt auch nicht so gut am Kreuz wie vermutlich der echte Jesus und wir wussten, dass wir bei unserem folgenden Kreuzgang zur Oma sehr vorsichtig sein mussten, da ansonsten unser Jesus in zwei Stücke zerriss wie der Vorhang im Tempel von Jerusalem und dann vom Kreuz flatterte. 

Zu zweit schulterten wir das Kreuz samt dem Gekreuzigten und marschierten in einer feierlichen Prozession zum Nachbargarten. Als die Oma auf uns aufmerksam wurde, schüttelte sie lächelnd den Kopf. Sie seufzte und sagte: "Jessersmaria."

Dann ging sie kurz ins Haus und während wir mit dem Gekreuzigten unschlüssig herumstanden und warteten, brachte sie für jeden von uns eine Tafel Schokolade. "Aber erst am Sonntag, wenn die Fastenzeit vorbei ist, essen", trug sie uns auf.

Am nächsten Tag war immer noch schönes Wetter und wir Kinder spielten am Obstanger vor dem Haus der Oma. Unsere Kreuzigung war schon wieder längst vergessen, und das Kruzifix lag hinter dem Haus neben dem Holzstapel. 

Wir langweilten uns ein wenig und warteten darauf, dass die Oma für uns Zeit hatte. Wir wollten sie fragen, ob sie mit uns Pudding machte.

Aber bei der Oma war nur unser Onkel, der schlechte Laune hatte und uns immer wieder ermahnte, wir sollten bitte leise sein. Er war sehr aufgeregt und obwohl er noch nie mit uns geschimpft hatte, wies er uns heute immer wieder mit lauter Stimme zurecht. Bald war uns gar nicht mehr langweilig, weil wir merkten, dass in der Wohnung der Oma etwas vor sich ging. Wir schaukelten, lachten und warteten, bis unser Onkel, der immer blasser wurde, wieder herunterkam und uns erneut schimpfte. Aber irgendwann kam er nicht mehr runter. Wer stattdessen kam, war unser Dorfarzt Doktor Schütz mit seinem großen schwarzen Auto. Wir beobachteten den weißhaarigen Mann, der immer nach Kölnisch Wasser duftete, wie er mit seinem großen dunkelbraunen Arztkoffer bedächtig, aber eiliger als gewöhnlich, zum Haus schritt. Unser Onkel hatte uns vorher gesagt, dass der Oma schlecht sei und wir deshalb still sein sollten. Wenn Doktor Schütz da war, hatte vielleicht die Grippe oder Magen-Darm und wir taten so, als seien wir selber krank. 

Dann passierte lange gar nichts. Irgendwann kam aber mein Papa, der eigentlich im Dienst gewesen wäre. Auch er war ganz blass und hatte keine Lust, mit uns zu spielen. Auch er verschwand im Haus bei seinem Bruder und Doktor Schütz und verbot uns Kindern, nach oben zu kommen.  

Langsam ahnten wir, dass die Oma mit uns heute keinen Pudding mehr machen würde. 

Irgendwann kam Papa aus dem Haus. Er beachtete uns nicht, sondern ging direkt heim. Ein wenig später kam meine Mama. Sie sagte, sie müsse mit uns reden und sagte, ich und meine Schwester, wir müssten sofort nach Hause kommen. Als die andere Tante kam und zu ihren Kindern dasselbe sagte und meine große Cousine auf einmal laut zu weinen begann, bekam ich es mit der Angst zu tun. Wir hatten irgendwas ausgefressen. Um was es wohl ging? Um die Kreuzigung? Weil wir so laut gewesen waren? Weil wir zu viel Wasser gepritschelt hatten?

Als daheim unsere Mama mit ernster Stimme sagte, dass die Oma gerade gestorben sei, war ich direkt erleichtert. Ich hatte schon Angst gehabt, dass wir eine schlimme Strafe bekämen. Aber eine gestorbene Oma, das war nicht so schlimm. Das passierte die ganze Zeit. Irgendwann starb jede Oma, das war selbst mir als Fünfjährigen klar. Meine Mama sagte telefonisch ein Familientreffen bei ihrer Schwester ab. Ich protestierte: „Warum sagst du das ab? Es ist doch nur die Oma gestorben!“ Ich hatte verstanden, dass ich nicht in den Kindergarten gehen konnte, als Welli gestorben war. Aber so ein Aufstand wegen Oma?

Am Abend mussten wir uns von der Oma verabschieden. Was komisch war, weil die Oma ja gestorben war und wir ja erst gestern „Pfiadi“ zur Oma gesagt hatten, nachdem wir Schokolade bekommen hatten. Wir Kinder trotteten polternd, wie wir es gewohnt waren, zur Wohnung der Oma im ersten Stock hinauf. Ich dachte, dass die Oma noch auf dem Kanapee lag und mein Onkel immer noch am Küchentisch saß und darauf wartete, dass die Oma ihm endlich das Mittagessen servierte. Aber das Kanapee war leer. Und in der kleinen Wohnküche roch es komisch nach Kirche und sehr viele Leute standen herum. In der Mitte war ein Bett, das dort noch nie gestanden hatte. Und in dem Bett lag meine Oma und schlief. Sie hatte die Augen geschlossen und umklammerte mit den Händen ihren Rosenkranz. Sie schien sehr gut zu schlafen, hatte sogar ein leichtes Lächeln um die Lippen und ich war sehr erleichtert, dass es für die Oma anscheinend recht angenehm war, gestorben zu sein.

Die nächsten Tage lernte ich immer besser, was der Tod bedeutet. Die Wohnung von der Oma war auf einmal leer und irgendwann gab es auch keine Schokolade mehr in ihrer Schublade. Keiner machte mehr mit uns Pudding, niemand sagte mehr „Jessersmaria“ und über das alte Fahrrad, das unbenutzt im Schuppen stand, webte eine Spinne ihr Netz.

Als der Kindergarten wieder anging, waren die Fräuleins ganz besonders nett zu mir und meiner Schwester. Und fast hätte ich vergessen, dass die Oma gestorben war. Bis wir nach dem Kindergarten nicht nach Hause gebracht wurden, sondern wir ins Wirtshaus nebenan gehen mussten. Da saßen ganz viele Erwachsene in schwarzer Kleidung. Auch Papa war nicht in der Arbeit, sondern saß im schwarzen Anzug in der verrauchten Gaststube. Ich gebe zu, dass ich ein wenig sauer war, weil ich, anders als kurz erhofft, kein Schnitzel bekam. Alle hatten bereits gegessen. Aber der Streit mit meiner Mama begann erst, als sie mir sagte, was die ganzen Leute hier beim Wirt machten. „Heute war die Beerdigung eurer Oma.“ Ich wollte wissen, warum sie mich nicht mitgenommen hatte. Meine Mama versuchte mir zu erklären, dass ich noch zu klein war für Beerdigungen. Da wurde ich richtig wütend. Ich war doch auch auf der Beerdigung vom Welli. Und ich hatte auch nur ein ganz kleines bisschen geweint!  Ich stritt mit meiner Mama und war an diesem Tag unendlich traurig. Ein erstes Mal so richtig traurig. Ich war traurig, dass ich so wütend auf die Mama war. Und noch trauriger, dass die Oma nicht mehr da war und mich nicht trösten konnte. 

Seit diesen Tagen wusste ich wieder ein erstes Mal wirklich, was der Tod bedeutete. Ich wusste, dass der Tod etwas Endgültiges ist. Dass viel geweint wird, wenn jemand stirbt. Und dass man, wenn jemand gestorben ist, ein paar Tage später ein Schnitzel bekommt. Damit man nicht mehr so traurig ist. Jedenfalls, wenn man ein Erwachsener ist.

 

Ende

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Das Wochenende an dem wir den Jesus kreuzigten und dann die Oma starb
Ein Fünfjähriger erzählt aus seiner Sicht über alles, was er über den Tod weiß: Wie es war, als sein Wellensittich starb, er mit den Nachbarskinder einen Jesus kreuzigten und dann die Oma starb.
Das Wochenende an dem wir den Jesus kreu
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