Ein Sommer an der Ostsee – voller Kindheitserinnerungen, Abschiede und leiser Sehnsucht. Zwischen Leuchtturmlicht, Lagerfeuer und Familiengeheimnissen wird das Meer zur ewigen Konstante, die bleibt, wenn alles andere sich verändert. Kurzgeschichte die am letzten Tag der Literarischen Sommerakademie im Pflegschloss Schrobenhausen ein erstes Mal vor Publikum vorgelesen wurde.
Der Weg führte über einen sandigen Waldweg. Spitze Kiefernnadeln pieksten die Füße, der Sand war noch warm vom Tag. Der Wald roch nach Harz und Meer. Am Ende des Weges ging es steil bergab, und wir hörten das Meer schon, bevor es zwischen den Bäumen auftauchte. Sofort begannen wir zu laufen, immer schneller, durch den stiebenden Sand, bis unsere Füße endlich im Wasser standen.
Anfang August war die beste Zeit, die welken Blätter, der kalte Nebel, die dunklen Tage so weit weg. Jedes Jahr waren wir längst übervoll und fast satt vom guten Leben und sicher: So wird es ewig weitergehen und der Sommer nie enden. Die Tage an der Ostsee, Jahr für Jahr, verstärkten das Gefühl. Der Sommer war längst groß, all die Tage am See, die Abenteuer in den Bergen und die Nächte sowieso. Und dabei hatten die Sommerferien jetzt erst begonnen. Wir spritzten uns gegenseitig das salzige Wasser ins Gesicht und jubelten ausgelassen.
Die Ostsee war an unserem Strand weit und unendlich, und ich fragte mich immer, wie der Horizont wohl an der wesentlich größeren Nordsee aussah.
Mein Bruder und ich sprangen noch eine Weile kindlich durchs Wasser, ehe wir beide still wurden und beinahe gleichzeitig zum Leuchtturm hinüberschauten. In diesem Moment kam mir, wie eigentlich jedes Jahr am ersten Tag, dieser kurze Gedanke, dass ich bald schon wieder genau hier stehen würde, um mich mit vollem, wunden Herzen vom Meer zu verabschieden.
Während mein jüngerer Bruder noch fröhlich durch die Gischt spazierte und – wie immer – erfolglos nach Bernstein suchte, dachte ich an all die Jahre. Wie dunkel es am Ende des Urlaubs abends schon war. Wie kalt der Wind werden konnte. Und wie oft wir nach langen Regentagen nicht mehr wussten, ob dies noch Sommer- oder schon Herbstregen war.
Am letzten Strandtag kamen dann doch Jahr für Jahr erneut die meist bangen Gedanken an das nächste Schuljahr oder die ungewisse Zukunft. Und das Meer, auf das wir damals wie heute schauten, war manchmal nicht mehr ganz so schön. Oft aber noch schöner.
Wir kamen schon ewig hierher ans Meer, aber nicht von Anfang an. Als wir Kinder waren, fuhren wir nur in den Pfingstferien in den Urlaub. Immer nach Süden ans Mittelmeer. Nach Italien oder Kroatien. Das war anders, auf eine unbestimmte Weise unbeschwert. Vielleicht lag es am Süden. Oder an Pfingsten. Die Pfingstferien konnten rau und kühl oder mild und heiß sein, aber anders als in den Sommerferien war es nicht der Herbst, sondern der Frühling, der das strenge Wetter brachte.
Als sich alles änderte und meine Eltern beschlossen, den Jahresurlaub künftig im August an der Ostsee zu verbringen, waren wir empört. Wir liebten das Mittelmeer. Aber unsere Eltern hatten eine Art Krise. Sie stritten viel. Oft stritten sie wegen mir, weil auch ich eine Krise hatte. Ich empfand in der Zeit meine Eltern schwierig und sperrte mich viel in mein Zimmer ein. Mein Körper veränderte sich, und alles, was vorher leicht war, wurde auf einmal kompliziert. Ich habe wenig Erinnerungen an diese Zeit, außer an unsere ersten Urlaube an der Ostsee. Die Ostsee war anders. Kälter. Der Wind rauer. Auch die Vorstellung, dass ich, immer am Wasser entlang, irgendwann Polen, Litauen, sogar Russland erreichen konnte, faszinierte mich.
Im Osten stand der Leuchtturm. Während meine Beine von der noch tagwarmen Gischt umspült wurden, ging sein Licht an, das in Richtung Westen leuchtete. Mein Bruder saß inzwischen am Strand, neben den verkohlten Resten eines Lagerfeuers. Ob es noch unseres vom letzten Jahr war?
Ich setzte mich zu ihm und fragte, ob er sich noch an das eine Lagerfeuer erinnere, als die polnische Jugendgruppe hier Urlaub machte. Er schüttelte den Kopf. War wohl noch zu jung, um sich für die Mädchen zu interessieren. Spielte lieber mit den Jungs tagaus, tagein Fußball. Ich dagegen saß abends am Lagerfeuer, immer in der Nähe von Agnieszka. Sie war die Einzige, die Deutsch sprach. Das war lange ein Nachteil, weil wir Abend für Abend am Feuer viel zu viel redeten und doch nicht ausdrücken konnten, was wir wirklich wollten. Erst an ihrem letzten Abend, als uns die Worte ausgingen, wurde die Sprache unwichtig. Wir küssten uns die halbe Nacht, ohne ein Wort zu reden.
Am nächsten Tag war sie fort, als ich aufstand. Ich dachte, dass auch sie nächstes Jahr wiederkommen würde, so wie der Sommer jedes Jahr wiederkam, aber ich hatte sie nie wiedergesehen.
Mein Bruder nickte, als ich ihm von Agnieszka erzählte. Dann erzählte er mir seine Jule-Geschichte. Jule war geblieben. Sie hatten geheiratet.
Während wir uns gegenseitig Geschichten erzählten, zog sich das Dunkelblau des Himmels endgültig zurück, und im Schwarz der Nacht begannen die Sterne zu blinken.
Wir legten uns in den Sand, schauten nach oben und gaben uns ganz hin in dieser ewigen Konstante, in der sich Vergangenheit und Zukunft sanft berührten. „Weißt du noch, als wir das erste Mal zu sechst hier waren?“
Ich nickte und lauschte in die Stille des Meeresrauschens. „Dann waren wir zu siebt. Kurz zu zehnt. Und dann nur noch...“
Eine besonders große Welle brandete langhaltend ans Ufer.
„Ich denk noch oft an die Nacht, als sie es uns gesagt hat. Hier. Am Strand.“
Ich nickte. Es war einer dieser Sommer, in denen wir hofften, uns von einem anstrengenden Schuljahr zu erholen, Kraft zu sammeln für all das, was noch kommen könnte. Es war auffällig, dass unsere Mutter dünn geworden war. Sie trug auch keinen Bikini mehr, nicht einmal einen Badeanzug, ging nicht mehr schwimmen. Beim Spielen mit ihren Enkeln geriet sie schnell außer Puste. Aber wir hatten uns nichts weiter gedacht, weil sie so ausgelassen war, so viel lachte. Wir glaubten, sie und Papa seien sich wieder sehr nahe, seit er in Rente war. Wir glaubten, sie mache eine Diät und sei einfach mit sich im Reinen. Wir waren so mit unseren eigenen Familien beschäftigt, dass wir gar nicht sahen, was augenscheinlich war.
„Glaubst du, Papa hat es gewusst?“, fragte ich.
Mein Bruder schüttelte den Kopf. „Papa hat es doch nicht mal verstanden, nachdem sie es uns gesagt hatte.“
Es war am letzten Abend passiert, als wir wieder am Lagerfeuer am Strand saßen. Mama räusperte sich. Sie wolle uns etwas mitteilen. Die Kinder tollten irgendwo am Strand herum oder suchten Treibholz für das Feuer. Es saßen nur wir sechs Erwachsenen im Schein der flackernden Flammen. Ich erinnerte mich nicht, wie sie es formulierte – nur, dass sie die Fachbegriffe der Diagnose auswendig gelernt hatte. Unsere Frauen verstanden sofort, was es bedeutete. Und auch ich wusste, was „fortgeschritten“ und „gestreut“ hieß. An diesem Abend wurde viel umarmt und wenig geredet. Es war der Sommer, in dem unser redseliger Vater verstummte.
Im nächsten Jahr waren wir nur noch zu neunt. Papa war ganz weißhaarig geworden und sprach nur noch, wenn man ihm die richtigen Fragen stellte.
„Glaubst du, dass wir bald nur noch zu acht hier sein werden, oder vielleicht wieder zu zehnt?“, fragte ich.
Mein Bruder lachte: „Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst haben sollte.“
„Sollen wir zu den anderen zurückgehen?“, fragte ich.
„Warte noch einen Moment. Ich will noch dem Meer zuhören.“
„Aber das Meer ist doch morgen auch noch da“, entgegnete ich.
„Das Meer ist doch morgen auch noch da.“