Omas Geister

Meine Großmutter erzählte uns Geschichten, die uns das Blut in den Adern gefrieren ließen – und doch schwor sie, dass jede einzelne wahr sei. Sie sprach von ihrer Kindheit in Kärnten, von Hunger, Dunkelheit und einer Nacht, in der sie etwas erlebte, das ihr Leben für immer veränderte. Als Kinder lauschten wir gebannt, zwischen Faszination und Furcht. Und je älter ich wurde, desto sicherer war ich mir: Manche Geschichten sind zu seltsam, um erfunden zu sein.

Oma erzählt von ihrer Begegnung mit einem echten Geist

Als ich noch ein Kind war, erzählte mir meine Großmutter uralte Geschichten aus ihrer Jugend. Ich wusste, dass sie wahr waren – denn meine Oma war eine fromme Frau, die nie gelogen hätte.  

Wir Kinder fürchteten uns vor ihren Geschichten, und doch baten wir sie immer wieder, uns von den unheimlichsten Erlebnissen ihres Lebens zu erzählen.  

Unsere Oma war über achtzig Jahre alt, hatte den Krieg erlebt – und sie hatte echte Geister gesehen. Ich versuchte als Kind, nicht an Geister zu glauben. Aber wenn ein Mensch, der so alt und klug war wie meine Oma, an Geister glaubte, dann erschien es mir vernünftiger, an sie zu glauben, als ihre Existenz zu leugnen.

Wenn wir sie besuchten und sie für uns kochte, sang sie manchmal leise vor sich hin. Alte Lieder, die klangen wie aus einem Grammophon, mit einem Trillern in der Stimme, das man nur von Schwarzweiß-Aufnahmen kannte.  

Sie erzählte oft von ihrer Kindheit in Kärnten – einem Land mit zwei Sprachen. Sie verstand die anderen Kinder nicht, verstand nicht, wenn sie sie aufgeregt vor etwas warnten oder über sie lachten. Sie verstand auch nicht, warum sie nicht bei ihren Eltern leben durfte. Statt in der Stadt bei ihrem Vater wuchs sie bei einer Tante auf dem Land auf. Dort war es schön und aufregend, und als sie eines Tages zurück in die Stadt musste, weinte sie viele Nächte lang vor Heimweh.

 

Ihr Vater war Gärtner im Krankenhaus. Die Familie lebte in einer kleinen Wohnung im alten Krankenhaustrakt.  

Und dort begegnete meine Oma dem ersten Geist.

 

Immer wenn wir Enkelkinder abends bei ihr saßen und unser Brot nicht aufessen wollten, erzählte sie uns diese Geschichte:  

„Damals“, begann sie, „gab es kaum etwas zu essen. Zum Abendbrot gab es oft nur Graubrot. Ich mochte das Brot – aber nicht die Rinde. Mein Vater schimpfte, wenn ich sie liegen ließ. Also aß ich das weiche Innere und steckte die Rinde heimlich in meine Schürzentasche. Und wenn keiner hinsah, schob ich sie unter mein Bett.“

 

Eines Nachts wachte sie vor Hunger auf. Ihr Magen knurrte so laut, dass sie glaubte, jemand würde es hören. Da fiel ihr ein, dass unter dem Bett noch die Brotrinden der letzten Tage lagen. Sie lauschte in die Stille. Nur ab und zu klang aus dem Nebentrakt ein Schrei – dort war die Irrenanstalt. Aber vor den „Verrückten“ hatte sie keine Angst. Etwas anderes machte ihr Angst – ein namenloses Gefühl, das sie jedes Mal befiel, wenn sie nachts in diesem Zimmer aufwachte.  

 

Trotz der Beklemmung rollte sie sich zur Seite und griff vorsichtig unter das Bett.  

Nichts.  

Sie tastete weiter. Immer weiter, bis sie fast aus dem Bett fiel. Da hörte sie ein leises Schnauben – ein Geräusch, das hier nicht hingehörte.  

Sie hielt den Atem an. Vielleicht war es nur Einbildung.  

Dann – plötzlich – schlug ihr etwas auf die Hand.  

„Aua!“, schrie sie auf.  

Erschrocken zog sie die Hand zurück. Doch der Hunger war stärker. Sie wagte es noch einmal – und diesmal traf sie ein harter Schlag auf die Fingerspitzen. Sie riss die Hand zurück, zog die Decke über den Kopf und zitterte.  

Sie wagte es nicht, aufzustehen, aber sie wollte um keinen Preis im Bett bleiben.  

Irgendetwas war unter ihr.  

Sie blieb die ganze Nacht unter der Bettdecke, bis das Licht des Morgens durch die Vorhänge sickerte.  

Dann lugte sie vorsichtig unter das Bett.  

Nichts. Kein Geist, kein Schatten – und auch keine Brotrinde mehr.

 

Das war der erste Geist, der meiner Oma begegnet war.

 

Einige Monate später sah sie den zweiten.  

Wegen Platzmangel musste sie in ein Durchgangszimmer umziehen. Manchmal gingen nachts Leute hindurch, die in den Nebentrakt mussten. Deshalb wunderte sie sich nicht, als eines Nachts ein Mann mit grauem Bart durchs Zimmer huschte. Es war immer um dieselbe Zeit – kurz nach Mitternacht.  

Er sah sie freundlich an, schwebte leise durch den Raum und verschwand.  

Meine Oma fand ihn sympathisch. Sie hatte keine Angst.  

 

Eines Tages fragte sie ihren Vater, wer dieser Mann sei, der nachts durch ihr Zimmer gehe.  

Er sah sie erschrocken an.  

„Welcher Mann?“  

Sie beschrieb ihn so gut sie konnte.  

„Das ist unmöglich“, sagte der Vater. „Ich schließe jede Nacht die Tür ab. Niemand kann da durchgehen.“  

Meine Oma beharrte darauf, ihn gesehen zu haben.  

 

Später hörte sie, wie ihre Eltern leise im Nebenzimmer stritten.  

„Warum lässt du sie ausgerechnet dort schlafen?“ fauchte ihre Mutter.  

Der Vater erwiderte nur: „Geister gibt es nicht!“  

„Aber du weißt genau, wen sie gesehen hat!“, flüsterte die Mutter. „Es ist noch keine drei Jahre her, dass der dort gelegen ist!“  

 

Noch am selben Tag zog meine Oma in ein anderes Zimmer.  

„Das war eine verlorene Seele, die Frieden suchte“, erklärte sie uns später.  

 

Wir Kinder wollten immer wissen, ob auch wir einmal einen Geist sehen würden. Und zugleich fürchteten wir nichts mehr.  

Dann sagte die Oma mit einem milden Lächeln:  

„Wenn euer Herz rein ist, müsst ihr keine Angst vor Geistern haben.“  

 

Als sie viele Jahre später starb, blieb in unserer Kirche die Uhr stehen.  

Erst am nächsten Tag fiel es uns auf.  

Da wussten wir, dass der Geist unserer Oma uns vielleicht doch besucht hatte – ganz leise, wie der Mann mit dem grauen Bart.

 

Ende

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