Als Kind war ich ein starker Schlafwandler und hatte die Fähigkeit, Geister zu sehen. Jedenfalls erzählte mir das später, als ich elf oder zwölf war, meine Mutter. Ich hatte kaum Erinnerungen daran. Meine Mutter aber erinnerte sich umso genauer. Es war eine schwierige Zeit für sie, da sie selbst kaum Schlaf bekam – meine kleine Schwester war damals noch ein Baby, ein Schreikind, das die ganze Familie oft tagelang wach hielt.
Meine Mama erzählte, dass sie mich mitten in der Nacht an den seltsamsten Orten wiederfand. Meist unten im Hausflur, auf der Suche nach dem Klo. Einmal vor der Balkontür, die ich – glücklicherweise erfolglos – zu öffnen versuchte. Manchmal stand ich einfach in ihrem Zimmer. Sie wusste meist nicht, wie lange ich da schon stand. Ich stand einfach vor dem Bett meiner Eltern, mit weit aufgerissenen Augen.
Anfangs merkte meine Mutter gar nicht, dass ich schlafwandelte, weil ich wach wirkte und sogar mit ihr redete. Ich sagte kryptische Sätze, antwortete aber auf ihre Fragen nicht. Als sie begriff, dass ich gar nicht verstand, was sie mir sagte, versuchte sie, mich zu wecken. Doch es gelang ihr nicht. Als sie mich schließlich sanft zu schütteln begann, schrie ich, wehrte mich – und als ich aufwachte, wusste ich nicht, wo ich war.
Meine Mutter erzählte, dass ihr das immer etwas unheimlich war. Besonders bei Vollmond stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sie mich mitten in der Nacht irgendwo im Haus wiederfand. Manchmal wachte ich dann im Dunkeln von selbst auf und wusste nicht, wo ich war. Ich erinnere mich dunkel, dass ich mich in totaler Finsternis umhertastete und nach meiner Mama schrie. Erst als sie das Licht anschaltete, begriff ich, dass ich mitten in meinem Zimmer stand und die Orientierung verloren hatte.
Das Schlafwandeln machte mir nur wenig Angst, weil ich es meist nicht merkte – und meine Mutter es bald unterließ, mich währenddessen aufzuwecken. Sie machte sich allerdings große Sorgen, dass ich im Schlaf das Haus verlassen oder vom Balkon springen könnte. Deshalb verriegelte sie beide Türen so gut es ging.
Seit ich als Kind versehentlich eine gruselige Szene im Fernsehen gesehen hatte, hatte ich starke Probleme einzuschlafen. Wie alle Kinder stand ich, nachdem ich ins Bett geschickt wurde, öfter auf, um meinen Eltern mitzuteilen, dass ich nicht einschlafen konnte. Meine Eltern saßen immer im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Insgeheim war ich neugierig, was sie anschauten.
Einmal schauten sie einen James-Bond-Film, und in dem Moment, als ich ins Zimmer blickte, sah ich im Film einen toten Mann mit einem Loch im Kopf in einem Sessellift sitzen. Ich erschrak so sehr, dass ich fortan panische Angst hatte, dass nachts überall tote Männer mit einem Loch im Kopf sitzen könnten. Ich traute mich jahrelang nicht mehr, nachts allein aufs Klo zu gehen, weil ich fürchtete, wenn ich die Tür öffnete, würde dahinter der tote Mann auf dem Klo sitzen.
Da ich eine starke Fantasie hatte, sickerten all die gruseligen Bilder, die ich mir tagsüber vorstellte, nachts in mein Bewusstsein. Meine Mutter hielt sich für ein Medium, das Geister sehen konnte – und vielleicht hatte ich als Kind eine ähnliche Gabe. Denn in manchen Nächten, in denen mein unruhiger Geist Schwierigkeiten hatte, in den Schlaf zu gleiten, blieb ich in einer Zwischenwelt hängen.
Ich sah unheimliche Dinge, aber ich war noch nicht eingeschlafen. Und ich war wach genug, um alles, was um mich herum geschah, exakt wahrzunehmen. Ich mochte diesen Zustand, den ich für mich selbst „Zwischenwelt“ nannte, nicht. Er machte mir Angst, weil sich darin Geister, Monster und unheimliche Wesen um mich scharten – und ich einerseits wusste, dass es sie nicht gab, aber andererseits wach genug war, um zu begreifen, dass sie sehr wohl real waren.
Solange meine Eltern noch wach waren, konnte ich mit der Zwischenwelt gut umgehen. Aber wenn ich mitten in der Nacht aufwachte, manchmal noch mit dem unguten Gefühl eines Alptraums, das in die reale Welt ausstrahlte, lag ich im Bett und hatte panische Angst. Ich wollte nicht in die Zwischenwelt abgleiten, konnte aber nicht sicher sein, friedlich direkt einzuschlafen.
Einmal war ich während eines Alptraums mitten im Schlafzimmer meiner Eltern aufgewacht. Ich wusste nicht, wie ich dorthin gekommen war. Ich schlüpfte sofort unter die rettende Bettdecke meiner Eltern. Meine Mutter erzählte mir Jahre später, dass sie von meinem Schrei aufgewacht war. Es war im Zimmer so dunkel, dass sie mich nicht sehen konnte. Aber sie sah ganz deutlich einen schwarzen Schatten, der sich an mir festgehalten hatte und mich erst losließ, als ich ins Bett gekrochen war.
Von frühester Kindheit an war ich also überzeugt, dass es echte Geister gibt. Meine Mutter hatte mich von diesem Glauben nicht abgehalten – und meine Oma, die ebenfalls echte Geister gesehen hatte, auch nicht. Den Rest meiner Kindheit habe ich alles dafür getan, die Fähigkeit, Geister zu sehen, wieder zu verlieren. Ich glaube, es ist mir ganz gut gelungen.
Manchmal frage ich mich aber, was ich wohl gesehen hätte, wenn ich die Eigenschaft, die Zwischenwelt zu besuchen, bis ins Erwachsenenalter beibehalten hätte.
Ende

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