Die Leiden des jungen Allerwerthesten

Ein moderner Werther taumelt liebestrunken durch eine zeitgenössische durchgefeierte Nacht. Kurzgeschichten Mix aus klassischer Romantik und Popliteratur. 

Allerwerthester

Den Sonnenuntergang noch betrachtete ich an einem der idyllischsten Orte der gesamten Stadt, dem Guntramshügel. Eine kleine Allee weit vor den Toren der Stadt führt den Hügel hinauf, von welchem man eine herrliche Aussicht auf die Berge und das kleine Örtchen Haslach hat. Mit wundem Herzen saß ich auf einer Bank und wunderte mich über die Empfindsamkeiten, die der Mai der Seele zufügt. Da es die Nacht zuvor geregnet hatte, duftete das Land frisch nach Blüten und die Bäume standen in herrlicher Pracht, wie sie das ganze Jahr nicht mehr zu sehen sein werden. Wie ich so im Stillen da saß und den Vögeln zuhörte, wie sie ihre Abendmelodie sangen, dachte ich lange über das Lottchen nach und ob sie auch nur einen Gedanken an mich verschwendete. Wie gern hätt ich sie in meiner Nähe gehabt und diesen wunderschönen Abend mit ihr geteilt. Doch war sie fern, anderer Pflichten zugetan und auch die stille Hoffnung auf eine Nachricht, ein kleines Sehnsuchtswort von ihr, erfüllte sich nicht. 

So schalt ich mein Herz für all die unhaltbaren Illusionen und Schwärmereien denen es sich so gerne hingibt, nahm meinen Hut und spazierte wieder auf die Stadttore zu, bevor sie sich schlossen und mir der Eintritte verwehrt war.

So schien er also besiegelt, der Abend, die Nacht, der Tag. 

Und jetzt harter Schnitt. Unschärfe. Gelbe Fetzen fliegen rückwärts durch die Nacht und setzen sich in Zeitlupe zusammen zu einem gelben Reclam-Heft. Langsam klart sich das Bild wieder auf. Es ist Nacht.

Ich schaue ihr nach. Sie rennt, rennt wie Lola. Als verändere sie dadurch Leben. Lotte verändert meines. Es ist spät. Falsch, es ist früh. Sie rennt davon, als gäbe es kein Morgen. Es ist längst Morgen. Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon wieder da. „Ich will jetzt laufen“, sagte sie und tat es sofort. Alles, was sie tat, tat sie so, als hätte sie es gerade erfunden. Ich schreibe diesen Satz in Gedanken in meine Memoiren, er passt wie angegossen. Wie ein begossener Pudel wiederum stehe ich in der Nacht und sehe ihr nach. Es ist nichts mehr nachzusehen, sie ist weg. 

Ich möchte ihr nachlaufen, werde sie rasch einholen, werde sie am Arm packen, sie zum Stehenbleiben zwingen. Sie wird ihre Hände gegen mich schlagen, dann küsse ich sie, ihre Hände erschlaffen und sie wird weinen. Sie wird wortlos ins Haus gehen und ich werde hilflos auf der Straße stehen und ihr nachschauen.

In meiner Stube angekommen, waren grad die Lampen entzündet und der Wandersrock abgelegt, als es an der Tür klopfte. Ein Bote brachte eine späte Nachricht: „Im Nachbardorf ist heut Tanz. Findet euch ein! Oder bleibt allein. L.“ Bebend hielt ich den Zettel in der Hand und wusste weder ein noch aus. Ein Blick beim Fenster hinaus, es war schon dunkel, sagte mir, es ist zu spät, um noch auf Reisen zu gehen. Doch war die Nachricht von ihr, von Lotte, und an mich gerichtet. Halb Einladung, halb Verheißung. Wie konnte ich die Nacht allein im kalten Bett verbringen, wenn sie nur eine halbe Stunde weit entfernt am Ball fröhlich durch die Nacht tanzte? Das Herz, es raste mir und in tausend Gedanken kämpften Sinn und Traum gegeneinander, wobei zum guten Schluss die pure Unvernunft, die Leidenschaft über die Ratio siegte und ich in hastiger Eile das Pferd sattelte.

Ich stehe hilflos auf der Straße und schaue ihr nach. „Sie ist so lustig“, Albert. „Möchte einfach laufen.“ Es gibt zwei Arten von Menschen. Die, die ständig laufen. Und die, die ständig stehenbleiben. Ich will kein Stehenbleiber sein. Scheißegal, wenn er es ist. Warum laufe ich ihr nicht nach? Ihm zuliebe? Um ihn nicht als Loser dastehen zu lassen? Ich bleibe feige. Er fragt mich, ob ich nicht bei ihnen schlafen möchte. „Klar möchte ich mit deiner Freundin schlafen“, könnte ich sagen. Und schüttle den Kopf, dann ihm die Hand. „Gute Nacht, Albert.“ 

Noch schlug die Turmuhr keine Zehne, als ich den Hallabrucker Berg überquerte, nun durch das finstere Langmoos ritt und mir die Strecke lang und länger schien. Schon reute mich die Unternehmung und ich schämte mich, dass mich das gute Mädchen zu so viel Unsinn treiben konnte. Wie sollte ich's vor ihr verbergen, dass einzig und allein sie zu sehen, ihre nahe zu sein, ich noch durch diese kalte Nacht durch ritt? So manchen Gedanken sponn ich auf dem Ritt und sann über mein verderbliches Unglück, das auch diese Nacht aufs Neue auflodern ließ. Denn Lotte, ach hätt ich sie doch niemals vor mein Angesicht bekommen, ist schon sei Jahr und Tag mit ihrem lieben Albert verlobt. Was will ich also? Will ich das junge Glück zersprengen? Niemals könnt ich dies überwinden, ist mir ihr Liebster selbst ans Herz gewachsen. Und allein die Kinder, für die sie sich so lieblich sorgt, nie könnt ich ihnen diese zweite Mutter entreißen. Was will ich also, fragte ich mich und fand keine Antwort. Einzig die Sehnsucht war es, die mich trieb, die Zeit mit ihr zu teilen so oft es ging und diesem wundervollen Wesen nah zu sein.

Gegen halb Elf endlich hatt‘ ich den Ort erreicht. Ein munteres Maifest war längst im Gange und Bürger, gleich wie Bauern aus der ganzen Gegend, flanierten durch den hell illuminierten Ort. Es war ein herrlich Anblick, doch keine Schönheit dieser Welt konnt es mit meiner Sehnsucht, das Mädchen heute noch zu sehen, auch im Geringsten aufnehmen. So fragte ich den Erstbesten, wo denn der große Ball heut sei. „Der Ball?“, fragte mich der Junge. „Herr, die ganze Stadt ist heut ein Ball. Doch meint ihr wohl den Ball am See, dorthin müsst ihr weiterreiten.“

Ich stehe unter einer Unterführung, die mich zu Tränen rührt. Ich beweine meine tote Mutter und führe laute Selbstgespräche. Ich bemerke den Sternenhimmel und mir fällt ein, wie ich früher in ähnlichen Situationen auf der Motorhaube des Autos lag. Julia, Greta, Luisa. Die Pest über beide eure Häuser. Ich checke das Handy. Es bleibt stumm und dunkel. Natürlich. Julia, Greta, Luisa. Was aus ihnen wohl geworden ist? Ich stelle mir vor, wie sie verzweifelt auf ihren Betten liegen und mich beweinen. Ihr Schicksal verfluchen und flehen, sie hätten bei mir bleiben sollen. Dann wieder der irre Typ mit dem gelben Frack. Er fuchtelt mit der Pistole herum. Bist du es, Kurt? Ich hätte mich damals in Seattle schon in den Pazifik werfen sollen, dann hätte ich mir Julia, Greta und Luisa erspart. Wird man denn nie erwachsen?

Gesagt, getan, noch längst war ich nicht am Ende meiner Reise angelangt. Die Allee zum See war nicht mehr weit und schließlich stand ich vorm Haus am Ufer. Auch hier das ebengleiche Bild. Junge Damen und Herren in festlichen Röcken unterhielten sich fröhlich und pafften Zigarren; hier war ich also richtig.

Je näher ich dem Ball nun kam, desto banger wurd es mir ums Herz. Was mocht die Lotte von mir denken, dass ich trotz später Stunde wirklich auf den Ball noch kam? Würd sie mir überhaupt Beachtung schenken? Sicher waren ihre Tänze schon alle vergeben. Mitnichten, sie würd die Schönste sein von allen, dazu brauchte man kein Hellseher sein. Ich zögerte lange und erst, als mich ein Junge erkannte, der fröhlich meinen Namen rief und mich in den hellen Saale schob, wurd ich zum Teil des Balles. Obwohl der Raum gefüllt von Menschen war, erkannt ich sie sogleich und schöner noch als ich es fürchtete, hatt sie sich zugericht und strahlte so entsetzlich lieblich, dass ich mich rasch hinter den Menschen verbarg und mein Heil am anderen Ende des Saales suchte. Dort stürzte ich erst ein volles Glas Wein hinab, ehe ich den Blick wieder hob und sich sogleich mit ihrem traf. Sie winkte mich zu sich hinüber. Mir stockte Atem gleich wie Stimme und wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ihr Kleid, ein gelbes unter blauem Unterrock, leuchtete so schön wie nur ihre hellbraunen Augen es sonst vermochten. „Mein liebster Werther! Mein Allerwerthester!“, sagte sie und nur wenn sie es sagt, scheint es wahrhaftig mein Name zu sein. Ich lächelte stumm und küsste in Gedanken ihre schönen Wangen, doch war mein Herz vor Furcht gelähmt, da sie umringt von zwei, drei jungen Männern war, die schön und kräftig die richtigen Worte fanden, um Lotte in Verlegenheit zu bringen. Sie, das gute Mädchen, das weder mich noch die anderen Männer verprellen wollte, entschuldigte sich galant, sie müsse sich die Hände waschen und verschwand. Rasch kehrt ich ihr den Rücken zu und wusste, dass ich zwar das Gesicht bewahrt, die erste Schlacht der Nacht jedoch bravourös verloren hatte. Nie würd es mir gelingen, an enthusiastische Abende anzuknüpfen, in denen sie mir Muse war und mir die Schwingen reichte, mit denen man der Göttlichkeit so nahe kam, wie nur die größten Dichter es vermochten. 

Der nächste Morgen: Grauen. Meine Zahnbürste ist weg und mein Schritt so hart als hätte man mir blaue Pillen ins Getränk gemischt. Das Handy hat einen fetten Kratzer am Display als hätte ich es vor Wut zu Boden geworfen. Das Handy kann nichts dafür. Medial gesehen weiter Quarantäne. Mir ist speiübel, fühle mich krank. Halskratzen, Kopfschmerzen. Zu viel getrunken, zu wenig angezogen. Immunsystem nur bedingt abwehrbereit. Dabei geht’s dem Hals und dem Kopf besser als dem Herz. Verdammter Phantomschmerz. Aber er strahlt aus, wird im restlichen Körper real. Ich esse Zahnpasta. Placebo gegen Karies, spucke aus, die Spucke ist rot. Schaue die Gestalt im Spiegel an. Nachtgespenst, aber coole Frisur. Hält und hält und hält. Im Gegensatz zu den Augen. Ringe? Autoreifen! Fette Autoreifen!

Rasch kam ich zu dem Entschluss, dass meine Sehnsucht mich heut zerstören würde, so oder so und wollte lieber flüchten. Auf dem Weg zum Ausgang hielt mich Albert fest. „Werther!“, rief er entzückt, „Mein Werther, wie schön dich zu sehn.“ Und ohne Widerrede ging er mit mir an die Luft, um eine Zigarre zu rauchen. Ein Gespräch unter Männern entspann und Albert erzählte von den Kleinen, die heute gut umsorgt seien. Er sprach von Lotte und wie liebevoll sie sei und ich hörte empathisch zu. Ach, ahnte er doch nur, wie gut ich ihn verstand. Albert, in bester Laune, beredete mich, mehr zu trinken und mich dem schönen Leben zu erfreuen. Ich wehrte ab und sagte, dass ich noch nachts nach Hause reiten wollte, doch er verbot es mir sogleich. „Das Tier ist gut versorgt und nur ein Tor reitet zu so später Nacht.“ schalt er mich und ging sogleich wieder in den Saal, wo er mir ein Bier in die Hand drückte. „Lass uns trinken, die Nacht ist noch jung und das Leben schreitet zu schnell voran“, rief er. Ich blieb bei ihm und fühlte, wie jeder Schluck mein Herz erwärmte. Nur von Lotte war nichts mehr zu sehen, als miede sie mich. Nach einer Weile begab ich mich auf die Suche, sei es aus banger Sehnsucht, sei es aus Sorge. Ich fand sie am Ufer des Sees, wo sie an der Promenade saß. Ich setzte mich zu ihr und Lotte seufzte. „Ach Werther.“, sagte sie, „Das Leben ist so schwer und fern ist mir jegliches Gefühl des Zufriedenseins.“ Kaum glauben mochte ich, was sie sprach. „Aber du siehst so glücklich aus, das blühende Leben in deinen Augen“, sagte ich und meinte es noch inniger als ich es auszusprechen vermochte. „Wenn du ahntest, was sich in meinem Herzen regt.“, sagte sie und ich schloss die Augen, den eigenen Schmerz in der Brust fühlend und dennoch wissen, dass wir nicht vom selben sprachen. „Der Kummer dehnet dir Stunden?“, fragte ich, „Dann reich mir die Hand und lass uns tanzen. Die Musik wird uns die eine oder andere schwerelose Stunde bereiten.“ Zu meiner Überraschung nahm sie an, nahm meine Hand und wir kehrten in den Saal zurück. Sie schenkte mir einen kurzen Tanz. Und selig hielt ich ihre Hand in meiner, sah ihre braunen Augen an und fühlte, wie sie Unruhe und Rastlosigkeit von meiner Seele nahm. In diesem Moment wusst ich bereits, dass die Nacht nicht schöner werden konnte und traurig dacht ich nur: Ach Augenblick, verweile doch. 

Er kehrte nicht mehr wieder. Denn es war der letzte Tanz des Balles. Die Lichter wurden ausgelöscht und alles ging nach draußen. Die einen gingen nach Hause, die anderen gingen nach der Stadt, wo in den Wirtshäusern noch gefeiert wurde. Albert hieß mich, sie zu begleiten und so gingen wir ins Wirtshaus zum Ochsen, wo noch eine Kapelle zum Tanz blies. Die Stimmung dort konnte nicht fröhlicher sein und auch auf Lottes Lippen blitzte so manches Lächeln. 

Durchsuche den Schrank nach Aspirin. Leere Kondompackungen fallen mir entgegen, plumpsen ins Waschbecken. Eine Zahnbürste fällt mit. Heller Ton, wie wenn Ringe auf Keramik fallen.

Gleich werde ich mich übergeben und den künstlichen Gestank von abgestandenen Red Bulls inhalieren. Aber ich überlege es mir noch einmal anders. Die Halsschmerzen genügen mir schon. Ich finde ein Aspirin aber keinen Becher. Ich nehme es in den Mund, spüle Wasser in die Mundhöhlen, warte. Es brutzelt in meinem Mund, kitzelt den Gaumen. Ich höre den tosenden Todeskampf der sich auflösenden Pille zwanzigfach verstärkt in meinem Kopf. Zzzz. Jetzt schlucke ich und fühle mich sofort gesünder.

Jedoch tränkte sich meine Seele rasch mit Wein der mich die Dinge anders sehen ließ. So ward mir bald, dass Lotte, lächelnd zwar, die Traurigkeit nur überspielte und Albert selbst dies nicht erkannte. So wurde viel gelacht zwischen uns dreien, doch wurd ich immer lauter und meine Scherze derber und bald war es mir, als verdürbe ich es mir mit ihr, je lauter ich mit Albert lachte. Sie sprach mich schließlich kaum noch an und macht mich still und stiller. Bis auch diese Nacht zu Ende war und am Horizont die ersten Sonnenstrahlen vom Osten her den neuen Tag verkündeten.

Albert nannt mir die Pension, wo beide sich heut eingemietet hatten. Er bot an, die restliche Nacht bei ihnen zu verbringen. Doch schüttelte ich sogleich den Kopf: „Ich werd ein eigenes Zimmer mir mieten.“ Zu dritt spazierten wir durch den Ort und vorsichtig besah ich mir das Mädchen, dessen Seele ich nicht mehr lesen konnte. Als merkte sie es, sprach sie plötzlich in heiterer Fröhlichkeit, sie möchte laufen. Und wie der Wind lief sie davon und lief und lief und Albert lachte. „Lotte ist lustig.“ Ja, nickte ich. „Ein merkwürdiges Mädchen.“ 

Ich hoffte, sie vor der Pension anzutreffen, wo ich ihr noch ein Gute Nacht mit auf dem Weg geben konnte, doch Lotte war nicht mehr gesehen. So stand es Albert zu, meine Segenswünsche entgegenzunehmen. Als auch er verschwunden war, ging ich noch eine Weile durch den Ort. Stellte mir die vielen Fragen und wunderte mich, ob und wann ich Lotte wiedersehen werde.

Vor dem Bett liegen meine Kleider verstreut. Die Jeans. Das Shirt mit dem großen Colafleck, die Unterhose. Die Unterhose? Ich blicke an mir hinab. Unverändert. Also doch blaue Pillen? Zu angespannt, um auf die Toilette zu gehen. Mitten auf dem Boden mein Schreibblock. Aha, also noch geschrieben gestern. Ich bücke mich, komme dabei dem Ding gefährlich nahe und stelle mir unweigerlich die Frage aller Männer, ob man mit dem Mund ran kommt. Nein, stelle ich fest und hebe den Block auf. Seltsamer Text, wie lange war ich auf gestern? Ich nehme den Stift und schreibe weiter.

Ende